Der amerikanische Versicherungskonzern hat ein Problem: Ihm laufen die Mitarbeiter davon. Daran ändern auch die jährlich ausgeschütteten Halteprämien von insgesamt 20 Millionen Dollar nichts. Jahr für Jahr muss das Unternehmen ein Drittel aller Stellen neu besetzen, was Kosten in Millionenhöhe verursacht. Der Versicherer ruft eine Unternehmensberatung zu Hilfe, die eine neuartige Software mit Daten über jeden einzelnen Mitarbeiter füttert: Eckdaten aus der Personalabteilung, Leistungswerte, sogar Informationen aus sozialen Netzwerken sowie Verhaltensmuster, die Psychologen aus der beruflichen E-Mail-Kommunikation der Mitarbeiter ableiten.
Am Ende spuckt das Programm das „individuelle Fluchtrisiko“ für jeden Angestellten aus: „Bei Sam gibt es ein 65-prozentiges Risiko, dass er in den kommenden 12 Monaten kündigt“. Nun kann der Versicherer frühzeitig herausfinden, wo bei den Mitarbeitern der Schuh drückt und Kündigungen vorbeugen. Schon bald sinkt die Fluktuationsrate um die Hälfte.
Ein schöner Erfolg, auf den der Versicherer eigentlich stolz sein könnte. Doch seinen Namen will er in dem Zusammenhang lieber nicht öffentlich genannt wissen. Denn das Projekt war eine rechtlich heikle Mission. Ist es noch Personalmanagement oder schon Bespitzelung, wenn eine Firma persönliche Psycho-Profile erstellt und die Kommunikation von Mitarbeitern auf Facebook und Twitter auswertet? Ist das nach den vergleichsweise lockeren Datenschutz-Gesetzen in den USA noch legal, oder eher nicht?
Die Berater fanden etwa heraus, dass Mitarbeiter, die keine Kinder oder keinen Partner unterhalten müssen, ein höheres Abwanderungsrisiko haben. Sollten diese Mitarbeiter künftig höhere Gehälter bekommen, um sie zu binden? Das Management dürfte sich auf einen Aufstand der Mütter und Väter im Unternehmen gefasst machen. Oder sollten Menschen ohne Familienanhang wegen ihrer erhöhten Fluchtgefahr am besten gar nicht erst eingestellt werden? Teure Schadenersatzklagen unterlegener Bewerber wären wohl nur eine Frage Zeit.
Mitarbeiter derart intensiv zu durchleuchten und zu kategorisieren, kann schnell in Diskriminierung ausarten und das Betriebsklima vergiften oder sogar das öffentliche Ansehen des Unternehmens ramponieren. In welchem Umfang Personalabteilungen digitale Daten über Mitarbeiter verwerten dürfen und sollen, ist deshalb umstritten. Dennoch scheint die grundsätzliche Marschrichtung eindeutig: Nie gab es mehr personenbezogene Daten in Unternehmen und nie waren Personaler aller Branchen und Länder entschlossener, diese zu nutzen. „People Analytics“ (Menschen-Analyse) haben US-Unternehmen diese Disziplin getauft.
Etliche Firmen für derlei Dienstleistungen gibt es inzwischen in den USA und immer mehr Personalabteilungen zählen zu ihren Kunden. 2010 verzeichnete LinkedIn, ein Online-Netzwerk für Geschäftskontakte, 3900 Mitglieder, die sich als People-Analytics-Verantwortliche auswiesen. Im ersten Quartal 2015 waren es bereits 9500.
So haben sich Unternehmen auf die Digitalisierung vorbereitet
Mehr als in Drittel aller Unternehmen bereitete sich durch digitales Management der Personalverwaltung vor. In der Studie waren Mehrfachnennungen möglich
Quelle: Edenred-Ipsos-Barometer 2015, "Wohlbefinden & Motivation der Arbeitnehmer"
An zweiter Stelle steht die Virtualisierung der Arbeitsplätze (28 Prozent), etwa durch virtuelle Desktops oder eine Ausstattung für Telefonkonferenzen.
Den dritten Platz teilen sich zwei Maßnahmen: die Einrichtung eines sozialen Firmennetzwerks sowie das Angebot von E-Learning (jeweils 25 Prozent).
18 Prozent der Unternehmen trafen Vereinbarungen zur Telearbeit
16 Prozent der befragten Unternehmen haben an ihrer Webseite gearbeitet.
13 Prozent der Unternehmen haben sonstige Maßnahmen ergriffen
Fünf Prozent der Unternehmen haben eine "BYOD" (bring your own device) Politik eigeführt.
Ein Drittel der befragten unternehmen gab an, keine der aufgeführten Maßnahmen zur Vorbereitung auf die Digitalisierung umgesetzt zu haben
Schon lange entscheidet die Analyse von digitalen Datenkonvoluten über Strategien in Produktion, Forschung, Logistik und Marketing. Es scheint, als würde trotz der damit verbundenen Risiken nun auch auch die letzte Bastion des Bauchgefühls, das Personalmanagement, von der Technik erobert werden. Grund dafür ist der technische Wandel der Arbeitsplätze. Noch vor wenigen Jahren konnten oft nur Kollegen oder unmittelbare Vorgesetzte wissen, was Mitarbeiter so treiben, ob sie motiviert sind, wie kreativ sie denken. Heute hinterlassen Angestellte bei der Arbeit Millionen von digitalen Spuren, die ein viel genaueres Bild ergeben können.
In immer mehr Branchen wird mit Hilfe von Informationstechnologie gearbeitet, meist auch mit Anbindung an das Internet. So kann das Verhalten fast aller Schreibtischarbeiter und zunehmend auch das von mobil arbeitenden Menschen lückenlos dokumentiert und von überall eingesehen werden. Angestellte bis hinauf in höchste Chefetagen schreiben massenhaft E-Mails, koordinieren ihre Meetings über den PC, geben in sozialen Netzwerken ihre Vorlieben und ihren Freundkreis preis und lassen es zu, dass ihr Aufenthaltsort über das Firmenhandy rund um die Uhr ermittelt werden kann.
Detail-Analyse der Mitarbeiter
Ob ein Mitarbeiter so motiviert ist, dass er E-Mails unverzüglich und auch nach Feierabend beantwortet, ist dabei noch eine der banalen Fragestellungen. Längst gibt es Software, die auch die Inhalte der Mails auf persönliche Eigenschaften hin abklopfen kann: Sind die Mails präzise oder ausufernd, freundlich oder aggressiv? Selbst über den Einsatz von Programmen zur Stimmenanalyse denken US-Unternehmen bereits nach.
Solche Programme sollen aus dem Tonfall heraushören können, ob Menschen die Wahrheit sagen – möglicherweise ein hilfreiches Instrument für Bewerbungsgespräche. Unternehmen haben Zugang zu wahren Datenbergen, die – wenn sie mit den richtigen Algorithmen durchforstet, sortiert und gedeutet werden – Personalern ziemlich genau sagen können, mit wem sie es wirklich zu haben.
Das große Vorbild der wachsenden People-Analytics-Gemeinde heißt Billy Beane. Der Manager des Baseball-Teams Oakland Athletics formte mit Hilfe von mathematischen Analysen eines der besten Teams in der Geschichte des Baseballs. Beane hörte 2002 nicht mehr auf seine Talentsucher, die Baseball-Spieler eher aufgrund ihres Images anwarben. Weil ihm das Geld fehlte, um sich am Wettlauf um die scheinbar besten Talente zu beteiligen, analysierte er mit Hilfe eines jungen Harvard-Absolventen alle in Frage kommenden Spieler auf ihre bisherigen spielerischen Erfolge hin: Wie oft war ein Spieler mit einem bestimmten Wurf, Schlag oder Spielzug tatsächlich erfolgreich?
Auf welche Bereiche wirkt sich die Digitalisierung im Arbeitsalltag aus?
47 Prozent der Umfrageteilnehmer gaben an, dass sich die Digitalisierung positiv auf das eigenständige Arbeiten auswirkt. 37 Prozent spüren keine Auswirkung, zehn Prozent beklagen negative Einflüsse.
Quelle: Edenred-Ipsos-Barometer 2015, "Wohlbefinden & Motivation der Arbeitnehmer"
45 Prozent sagen, dass die Digitalisierung die Zusammenarbeit verbessert, 13 Prozent sehen eine Verschlechterung.
43 Prozent spüren einen positiven Einfluss der Digitalisierung auf ihre Lebensqualität im Job, 36 Prozent merken gar keine Veränderung und 15 Prozent spüren negative Einflüsse auf die Teamarbeit.
Die Zusammenarbeit mit Kunden verbessert sich laut 42 Prozent der Befragten. Neun Prozent sehen hier eine Verschlechterung.
Eine Verbesserung durch die Digitalisierung erleben 41 Prozent, elf Prozent beklagen negative Einflüsse.
43 Prozent sagen, dass die Digitalisierung an den Kompetenzen nichts verändert hat. 40 Prozent sehen einen positiven Einfluss und acht Prozent einen negativen.
40 Prozent fühlen sich durch die Digitalisierung bei der Arbeit motivierter, bei elf Prozent sehe es durch die Digitalisierung schlechter aus mit ihrer Motivation. Für 43 Prozent hat sich durch die Digitalisierung nichts an ihrer Motivation verändert.
Dank der Digitalisierung können 34 Prozent der Befragten berufliches und privates leichter vereinen. Bei 16 Prozent ist es dagegen schwieriger geworden, beides unter einen Hut zu bekommen. 42 Prozent spüren keine Veränderung.
Bessere Chefs dank Digitalisierung? Keine Veränderung bemerkten 42 Prozent. Einen positiven Einfluss glauben 28 Prozent bei ihren Vorgesetzten bemerkt zu haben, eine Verschlechterung beklagten 28 Prozent.
Diese Detail-Analyse enthüllte, dass die besten Profis für bestimmte Positionen auf dem Platz gar nicht die gemeinhin gefeierten Stars waren. Beane engagierte für vergleichsweise kleines Geld diese unterschätzten Experten und formte aus ihnen ein Team, wie es die Baseball-Liga noch nicht gesehen hatte. Oakland hängte daraufhin Top-Clubs ab, die drei Mal höhere Budgets hatten und schaffte es zwei Jahre in Folge in die Endrundenspiele. Inzwischen ist die Beane-Methode nicht nur in Hollywood verfilmt worden („Moneyball“ mit Brad Pitt), sondern auch ein Standardverfahren im Baseball.
Beanes Botschaft an Manager in aller Welt lautet: Auch im People-Business sind Daten der richtige Maßstab und nicht das Bauchgefühl. Der US-Einzelhandelsgigant Walmart darf inzwischen zu den Anhängern der Idee gezählt werden, ebenso die Schweizer Bank Credit Suisse. Der Autobauer General Motors lotet mit Befragungen aus, wie gut Mitarbeiter vernetzt sind und integriert isolierte Mitarbeiter, die zugleich oft auch Minderleister sind, wieder stärker in den internen Informationsfluss – oder ersetzt sie.
Die Airline JetBlue findet mit Datenanalysen in kürzerer Zeit die besseren Flugbegleiter, die Investmentbank Goldman Sachs filtert mit Logarithmen rund 100.000 Blindbewerbungen pro Jahr. Der Pharmakonzern Johnson & Johnson durchleuchtet vor allem das körperliche und geistige Wohlbefinden seiner Mitarbeiter und schafft mit darauf aufbauenden Gesundheitsprogrammen eine ebenso zufriedene wie leistungsstarke Belegschaft: Jeder Dollar, den das Unternehmen hier investiert, steigert den Gewinn angeblich um vier Dollar.
Den Firmen steht dabei eine Vielzahl neuer, spezialisierter Software-Firmen zur Seite. Aber auch die großen Anbieter für Firmen-IT, etwa Oracle, SAP oder IBM, sind inzwischen auf den Zug aufgesprungen. Selbst die amerikanische Online-Partnervermittlung eHarmony will mit ihrer Erfahrung bei der „Menschen-Analyse“ künftig in dem Feld mitmischen. Das Softwareangebot der Firmen ist so breit wie das Anwendungsfeld: Mitarbeitergewinnung, Bewerbungsverfahren, Talentmanagement, Personalabbau.
Anti-Diskriminierungsrichtlinien gegen People Analytics
Der Internet-Konzern Google ist Anwender und Entwickler der neuen Personalmanagement-Instrumente zugleich. Es ist wenig überraschend, dass bei einem auf Suchprozesse spezialisierten Unternehmen schon früh die Frage aufkam, wie etwa die Mitarbeiteranwerbung mittels Such-Algorithmen beschleunigt werden könnte.
„Die Mitarbeitersuche nervt“, soll Google-Mitbegründer Sergey Brin 2007 in einem Meeting gesagt haben: „Ich will ein Programm, das aus den Blindbewerbungen die richtigen Kandidaten rausfiltert“.
Daran sei Google allerdings gescheitert, räumt der heutige Google-Personalchef Laszlo Bock ein. Doch das Ziel, Bewerbungen, Talentförderung und Belegschaftsleistung mittels Datenanalyse zu verbessern, sei geblieben. Mit systematisierten Analysen sei es gelungen, die Dauer vom Eingang einer Blindbewerbung bis zum Jobangebot um 75 Prozent zu senken, sagt Bock.
Was Big Data im Personalwesen kann
Ein Großhandelsunternehmen nutzt für eine interne HR-Analytse Daten und Modelle über Stärken und Schwächen im Management und warum die Leistung der Mitarbeiter in den unterschiedlichen Niederlassungen unterschiedlich ist. Zusammen mit einem Überblick über die Kontrollreichweite der einzelnen Managementeinheiten und den unterschiedlichen Vergütungsvarianten aller Abteilungen und Teams im Unternehmen lässt sich darstellen, wo im Unternehmen sich Talente bewegen. Ob sie das Unternehmen verlassen oder wo die Mobilität der Talente in höhere Positionen gut oder weniger gut ausgeprägt ist. Das gibt der Unternehmensführung Erkenntnisse darüber, wann sie Organisationsprozesse konsolidieren oder erweitern und wann sie neue Führungskräfte fördern oder dort Strukturen reorganisieren sollen.
Quelle: Cornerstone OnDemand
Xerox konnte die eigene Mitarbeiterfluktuationsrate in allen seinen Callcentern um etwa 50 Prozent reduzieren, nachdem es Big Data im Rahmen der Überprüfung der Bewerbungen einsetzte. Das Unternehmen hatte bisher Personen basierend auf deren Praxiserfahrungen eingestellt. Doch die Daten zeigten, dass die Persönlichkeit eine größere Rolle spielt als die Praxiserfahrung. Während kreative Menschen meist für mindestens sechs Monate im Unternehmen bleiben, so dass das Unternehmen wenigstens die Investitionen in deren Ausbildung erwirtschaften kann, verlassen wissbegierige Menschen das Unternehmen.
In einem anderen Unternehmen war das Team der HR Analytiker aus ihrer ursprünglichen Aufgabe, der Personalplanung, herausgewachsen. Nach mehr als drei Jahren Analysen hatte das Team Rekrutierungs-Modelle entwickelt, die in der Lage waren, Arbeitsmarktdaten, Gehaltsdaten und Informationen über Fähigkeiten externer Personen miteinander zu korrelieren, um auf diese Weise lokale Rekrutierungsstrategien in der ganzen Welt zu entwickeln.
Dabei zählten vor allem nüchterne Leistungsdaten: „Die meisten Bewerbungsgespräche sehen wir als Zeitverschwendung, denn uns geht nicht darum, ob jemand überzeugend auftreten kann“, sagt Bock. „Wir lassen die Bewerber direkt arbeiten und messen ihre Arbeitsweise und den Erfolg.“
„Wir wissen heute: People Analytics funktioniert grundsätzlich und findet immer mehr Anhänger in US-Firmen“, meint Cade Massey, Professor für Informationsmanagement an der Wharton Business School in Philadelphia. Doch ob sich die Computerfreaks wirklich flächendeckend und dauerhaft in den Personalabteilungen einnisten, sei dagegen noch keine ausmachte Sache. Es hänge weniger vom objektiven Potenzial der neuer Software-Werkzeuge ab, so Massey.
Erfolgskritisch sei vielmehr die Angst der Mitarbeiter vor Sherlock-Holmes-Personalern und die Angst der Firmen vor Spitzel- oder gar Diskriminierungsvorwürfen. Und nicht zuletzt die staatlichen Datenschutzrichtlinien.
Bei einem großen New Yorker Hedgefonds, der großes Interesse an People Analytics hat, wären viele verbreitete Methoden von vornherein ausgeschlossen: „Wir dürfen, bevor ein Bewerber zum Gespräch kommt, noch nicht einmal seine Facebook-Seite aufrufen“, erzählt eine Personalverantwortliche, „denn das, was wir da sehen, könnte unsere Objektivität beeinflussen.
Deshalb verbieten unsere Anti-Diskriminierungsrichtlinien jeden Gebrauch von sozialen Netzwerken.“ In vielen US-Firmen sind solche internen Richtlinien strenger als die gesetzlichen Datenschutzvorschriften und können zu unüberwindbaren Hindernissen für die Freunde der „Menschen-Analyse“ werden.