Über die Geisteshaltung des Perfektionismus sinnieren kluge Menschen schon seit Jahrhunderten. „Perfektion existiert nicht“, sagte bereits im 19. Jahrhundert der französische Schriftsteller Alfred de Musset. „Nach ihr zu streben, ist die gefährlichste Art der Verrücktheit.“
Soweit würden die Wissenschaftler, die sich in den vergangenen Jahren dem Perfektionismus gewidmet haben, sicher nicht gehen. Doch ihre Erkenntnisse lassen vor allem einen Schluss zu: Häufig ist Perfektionismus nicht der Schlüssel zum Erfolg, sondern der Quell allen Übels. Er steht nicht am Anfang vieler Erfolgsgeschichten, sondern erstickt sie bereits im Keim. Wer Perfektion anstrebt, erntet häufig Frustration. Und schadet sich selbst.
Zu diesem Ergebnis kam kürzlich zum Beispiel der Psychologieprofessor Joachim Stoeber von der Universität von Kent. Für eine aktuelle Studie untersuchte der gebürtige Deutsche die Arbeitsgewohnheiten und Persönlichkeitsstruktur von 131 Angestellten. Das Ergebnis: Jene Befragten, die besonders perfektionistisch und ehrgeizig waren, zeigten bereits Anzeichen von Workaholismus.
Die Situationen kennt wahrscheinlich jeder: Der Chef lässt die Bemerkung fallen, dass die Präsentation „in Ordnung“ gewesen sei – nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Der eine lässt solche Bemerkungen an sich abprallen und geht trotzdem entspannt und rechtzeitig in den Feierabend. Der andere grübelt noch Stunden später drüber nach und entscheidet sich für nächtelange Überstunden, aus Angst vor dem Scheitern.
Dass eine solche Einstellung auf Dauer schadet, erklärt sich von selbst. Dass sie sogar das Leben verkürzen kann, weiß man erst seit einigen Jahren. Zu diesem Fazit kamen zumindest Prem Fry (Trinity Western Universität, Kanada) und Dominique Debats in 2009. Für ihre Studie verfolgten sie knapp sieben Jahre lang das Schicksal von 450 Personen. Und resümierten: Die Perfektionisten starben wesentlich früher.
Zugegeben, es spricht nichts dagegen, alles richtig machen zu wollen. Doch wer sich immer nur mit 100 Prozent zufrieden gibt, der gesteht sich selbst keine Fehler ein. Er traut sich nicht aus der Deckung; hat Angst, seinem Chef nicht alles Recht zu machen. Wo es an Mut und Chuzpe mangelt, entsteht nichts Neues. Die Bereitschaft zum Misserfolg macht Erfolge erst möglich.
Doch dieses Risiko wollen Perfektionisten vermeiden. Sie zerlegen jeden Arbeitsschritt am liebsten in kleinere Teilschritte. Hauptsache, alles bleibt unter Kontrolle. So richtig vorwärts kommt damit niemand.
Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, fehlerhaft und gedankenlos zu handeln. Sondern sich immer bewusst zu sein, dass Scheitern dazugehört. Wer sich nicht mehr traut, vor die gedankliche Haustür zu treten, der wird zwar nicht nass – er verpasst aber auch den Sonnenschein.