
Fachkräftemangel – der Begriff ist in den letzten Jahren zum Buzzword schlechthin geworden. Jetzt befeuern Arbeitsmarkt- und Bevölkerungsforscher die Debatte darum, ob es den Mangel tatsächlich gibt, welche Auswirkungen er hat und wie sich ihm begegnen lässt aufs Neue.
Allein bis 2030 könnte sich die Zahl der fehlenden Facharbeiter, Techniker, Forscher und medizinischen Fachkräfte auf bis zu drei Millionen belaufen und bis 2040 gar auf 3,3 Millionen, geht aus einer am Mittwoch veröffentlichten Studie des Basler Forschungsinstitut Prognos hervor. Politik und Wirtschaft verfügten aber über die „passenden Maßnahmen“, um dies rechtzeitig zu verhindern, heißt es darin.
Um den drohenden Engpass an qualifiziertem Personal zu verhindern, solle die Politik sechs Maßnahmen ergreifen, so die Wissenschaftler. Das sind ihre Forderungen:
1) Zunächst soll die Bundesregierung eine „Bildungsoffensive“ starten: Vor allem die berufliche Ausbildung müsse gezielt gefördert werden, um mehr jungen Menschen zu einem Berufsabschluss zu verhelfen.
2) Für Menschen im Berufsleben sei eine „effektivere Weiterbildung“ erforderlich, die sie auf neue Jobs vorbereiten, die mit dem Einzug des Internets in den Fabrikhallen entstünden.
3) Zudem sollte Frauen und Männern nach einer Familienpause die Rückkehr ins Erwerbsleben erleichtert werden.
4) Ältere sollten dazu motiviert werden, länger zu arbeiten.
5) Teilzeitkräfte dafür gewonnen werden, ihre wöchentliche Arbeitszeit zu verlängern.
6) Migranten und Asylbewerber sollen besser in den Arbeitsmarkt integriert werden.
Die Politik widmet sich dem Thema am Mittwoch in einer Kabinettssitzung. Die Bundesregierung sieht noch erheblichen Handlungsbedarf, lautet das Fazit des neuen Fortschrittsberichts zum Fachkräftekonzept aus dem Bundesarbeitsministerium, den die Ministerrunde am Mittwoch nach Angaben aus Regierungskreisen verabschiedete. Die Wirtschaft sieht im Fachkräftemangel inzwischen ein Kernproblem, das das künftige Wirtschaftswachstum bremst. "Wir sind bei der Fachkräftesicherung gut vorangekommen. Aber die Herausforderung bleibt riesengroß", schilderte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles die Lage. Um Wohlstand und Wachstum abzusichern, müssten die Erwerbstätigen unterstützt werden, mit den Veränderungen und neuen Anforderungen in der Arbeitswelt umzugehen. Dabei müssten alle, unabhängig vom Geldbeutel, die gleichen Chancen haben. "Der Fortschrittsbericht ist eine Mahnung zum Handeln", erklärte Nahles und warnte vor "Stillstand und Nichtstun". Als eine zentrale Herausforderungen für die Zukunft nannte ihr Haus noch größere Anstrengungen, um die Erwerbstätigkeit von Frauen zu erhöhen.
Die gängigsten Thesen zum Fachkräftemangel - und ihr Wahrheitsgehalt
Das stimmt zwar für einige Berufsgruppen, ist aber auch regional sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die aktuellste Engpass-Analyse der Bundesagentur für Arbeit etwa sieht keinen flächendeckenden Fachkräftemangel - wohl aber Engpässe in einigen technischen Berufen sowie in Gesundheits- und Pflegeberufen. Mit durchschnittlich 162 Tagen am längsten bleiben demnach Stellen in der Altenpflege unbesetzt, gefolgt von Jobs im Bereich Heizung, Sanitär, Klimatechnik und Klempnerei (150 Tage) sowie Softwareentwicklung und IT-Beratung (143 Tage).
Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) wiederum kommt in einer Analyse zu dem Ergebnis, dass die Firmen derzeit etwa die Hälfte aller Stellen in Engpassberufen ausschreiben und somit Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung vielerorts bereits die Regel und nicht die Ausnahme seien. Im Süden sei die Lage dabei angespannter als im Norden, aber auch in Ostdeutschland spitze sich die Situation teils zu. Auch Enzo Weber vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) sagt: In einigen ostdeutschen Boom-Regionen steige der Arbeitskräftebedarf bei gleichzeitig fehlendem Zuzug entsprechender Fachkräfte.
Das lässt sich nicht ohne weiteres genau prognostizieren. Vorhersagen aus der Wirtschaft zur künftigen Fachkräftelücke stoßen deshalb regelmäßig auf Kritik - auch weil dahinter das Interesse vermutet wird, möglichst viele junge Leute für technische Berufe zu rekrutieren und so die Bezahlung zu drücken. Fest steht nur: Zwar schmälern die Alterung der Gesellschaft und der Trend zum Studium die Zahl potenzieller Bewerber in bestimmten Berufen. Aber die Digitalisierung könnte diese Entwicklung abfedern. Noch lässt sich allerdings nicht genau absehen, in welcher Geschwindigkeit der zunehmende Einsatz von Sensorik, Maschinen und Robotern menschliche Arbeitskräfte einmal ersetzen wird. Auch wie sich Zuwanderung und die Aufnahme von Flüchtlingen mittel- bis langfristig auf das Fachkräftepotenzial auswirken, bleibt abzuwarten.
Darüber klagen Wirtschaftsvertreter immer wieder. Zu häufig hapere es nicht nur an ausreichenden Mathematik- und Deutschkenntnissen, sondern auch an sozialen Kompetenzen, sagte erst kürzlich der Hauptgeschäftsführer der bayerischen Metall-Arbeitgeberverbände, Bertram Brossardt. In einer kürzlich veröffentlichten Branchenumfrage in Bayern hatte fast die Hälfte der Unternehmen, die ihre Ausbildungsplätze nicht besetzen konnten, eine fehlende Eignung der Bewerber als Ursache angegeben. Doch Ausbildungs- und Arbeitsmarktexperten halten dagegen: Angesichts schrumpfender Bewerberzahlen sollten die Firmen auch sozial benachteiligten Jugendlichen und jungen Leuten mit schwächeren Schulabschlüssen Chancen bieten.
Vor allem die Gewerkschaften werfen Arbeitgebern in Berufen mit Nachwuchssorgen vor, zu wenig für die Ausbildungsqualität zu tun. Überstunden, fehlende Ausbildungspläne oder hoher Druck - solche Mängel machten manche Berufe für junge Leute eben unattraktiv, argumentiert etwa der Deutsche Gewerkschaftsbund. In seinem jährlichen Ausbildungsreport kommen etwa immer wieder Ausbildungsgänge im Hotel- und Gaststättengewerbe vergleichsweise schlecht weg. Genau in solchen Berufen gebe es besonders viele unbesetzte Ausbildungsplätze, sagt DGB-Bundesjugendsekretär Florian Haggenmiller. Um Abhilfe zu schaffen, haben Wirtschaft und DGB ein spezielles Beschwerde-Management auf den Weg gebracht.
Darauf macht etwa die IW-Studie aufmerksam - und empfiehlt den Arbeitgebern, selbst aktiver und beweglicher zu werden. Neben dem Blick über den regionalen Tellerrand bei der Suche von Fachkräften und Azubis könnten die Betriebe den jungen Leuten vor Ort verstärkt Wohnmöglichkeiten anbieten und auch Arbeitslose zum Umzug bewegen.
Hier besteht dringender Handlungsbedarf, sagt etwa IAB-Experte Weber - und Staat und Betriebe sollten dabei Hand in Hand arbeiten, auch um den digitalen Wandel gut zu bewältigen. „Wir brauchen eine Weiterbildungspolitik.“
Die Unternehmen können natürlich auch etwas gegen den Fachkräftemangel tun, heißt es beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Das IW legt den Betrieben diese vier Maßnahmen ans Herz, um die Zahl der Bewerber - und der Mitarbeiter - zu erhöhen:
1) Unternehmen sollten ihre Stellen verstärkt überregional ausschreiben.
2) Sie sollten neues Personal bei der Wohnungssuche und bei der Integration in den Alltag unterstützen. So könnten Betriebe für neue Kollegen Mentoren bereitstellen, die Neueinsteiger aus anderen Regionen begleiten.
3) Auch sollten die Betriebe über Wege nachdenken, junge Leute und Arbeitslose zu mehr Mobilität zu bewegen – etwa durch spezielle Wohnangebote für Lehrlinge am Ausbildungsort.
4) Bei der Weiterqualifizierung könnten die Betriebe stärker selbst aktiv werden und so die Fachkräftesicherung für den eigenen Bedarf vorantreiben.