Psychologe über Coachings „Ich habe viele unsinnige Sachen gesehen“

Der Wirtschaftspsychologe Uwe Kanning sagt: Anfang der 2000er-Jahre sei „die Szene noch viel homogener“ gewesen. „Es ging thematisch vor allem darum, wirtschaftlich erfolgreich zu sein, nach dem Motto: Jeder kann Millionär werden, schaut her, ich bin auch reich geworden und ich zeige euch, wie es geht.“ Quelle: PR

Der Coachingmarkt ist unübersichtlich und oft unprofessionell, sagt Uwe Kanning. Der Wirtschaftspsychologe erklärt, welche Menschen sich zu Coaches hingezogen fühlen – und warum die eher selten viel Geld verdienen.

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Uwe Kanning lehrt seit elf Jahren Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Er gilt als ausgewiesener Experte in Personalfragen, berät Unternehmen und Behörden. Auf seinem YouTube-Kanal spricht er über Interviewfragen in Bewerbungsgesprächen und umstrittene Formen des Coachings. 


WirtschaftsWoche: Herr Kanning, Sie arbeiten seit elf Jahren als Professor für Wirtschaftspsychologie. Überrascht Sie das Coachingbusiness manchmal noch?
Uwe Kanning: Nicht wirklich. Ich habe ziemlich viele unsinnige Sachen gesehen.

Was denn zum Beispiel?
Vor eineinhalb Jahren gab es mal eine Dame, die behauptete, für die Personalauswahl den Bewerber nie gesehen haben zu müssen. Sie war damals bei einer Personaltagung als Keynotespeakerin eingeladen. Im Vorfeld gab es sehr viel Kritik, und ihr Auftritt wurde dann in eine breiter besetzte Diskussionsrunde eingebettet.

Diese Frau bezeichnet Stefan Frädrich, der Gründer der Coachingplattform Greator, als „eine Art Ikone“. Ihre Sprache sei so präzise, dass er den Eindruck habe, „sobald sie den Mund aufmacht, könnte man Bücher mittippen“. Sehen Sie das auch so?
Ich glaube, das sollte man lieber nicht mitschreiben. Es sollte uns weniger um die Sprache als vielmehr um die Evidenz der Inhalte gehen.

Das Feld der Redner, die über die Psyche des Menschen dozieren oder ihrem Publikum erklären, wie es selbstbewusster und beruflich erfolgreich wird, ist weit. Wie viele Coaches gibt es in Deutschland?
Nach den Zahlen, die ich kenne, sind es ungefähr 30.000, die sich Coach nennen, und davon 8000 Business Coaches. Weniger als 20 Prozent davon schätze ich als wirklich seriös ein.

Das ist ein ziemlich niedriger Wert. Wo liegt das Problem?
Es gibt über 300 Coachingausbildungen. Das ist uferlos. Es wäre sinnvoll, wenn sich die Forschung damit auseinandersetzen würde, wie wirksam konkrete Methoden sind. Es geht darum, herauszufinden, welche Maßnahmen unter welchen Bedingungen nachweislich Nutzen entfalten und welche vielleicht sogar Schaden anrichten. Der gegenwärtige Zustand des Coachings ist vergleichbar mit dem früheren Wildwuchs von Therapieschulen. Da hat die Forschung schon vor Jahrzehnten die Spreu vom Weizen getrennt. Das sollte man auch mit dem Coaching machen.

Was sollte gutes Coaching leisten?
Jemand, der als Coach arbeitet, braucht eine fundierte wissenschaftliche Ausbildung. Er oder sie muss sich mit menschlichem Verhalten auseinandersetzen, beispielsweise damit, welche Bedeutung Motivation hat. Auch Grundlagenwissen über soziale Konflikte ist vonnöten.

Wie erlangt man das?
Ein Psychologiestudium liegt nahe, aber auch die Pädagogik könnte gute Dienste leisten. Und dann ist es sinnvoll, darauf eine Ausbildung aufzusetzen. Als Coach muss ich beispielsweise lernen, wie ich eine handfeste Störung erkenne, und auch, wann ich nicht mehr der Richtige für den Klienten bin, sondern ein Psychotherapeut übernehmen sollte.

Wer hat das Bedürfnis, sich coachen zu lassen?
Wir haben keine abgesicherten Erkenntnisse darüber, wo die Menschen herkommen. In der Geschäftswelt sind es wohl vor allem Führungskräfte. Wenn ich an Jürgen Höller denke, da sind damals Tausende hingegangen. Ich kann mich an eine Dokumentation im WDR vor etwa zehn Jahren über einen großen Motivationstag erinnern. Die Teilnehmer waren Arbeitslose, Studierende, Manager, die unterschiedlichsten Hintergründe. Das ging quer durch die Gesellschaft.

Was sind das für Menschen, die andere mit Seminaren glücklich machen wollen?
Das ist sehr heterogen. Der Markt ist unübersichtlich. Es ist nicht so, dass alle etwas studiert haben. Oft kommen sie aus dem Sportbereich. Die werden dann irgendwann älter, suchen nach einer Beschäftigung und werden eingeladen zu erzählen, wie sie ihre Olympiamedaille geholt haben. Über Motivation sprechen auch ganz oft Kaufleute, die früher vielleicht Versicherungen verkauft und dabei Techniken gelernt haben, wie sie Menschen überzeugen können.

Warum hilft ihnen das als Coach?
Sie betreiben weiter eine Art Marketing, verkaufen aber keine Versicherungen, sondern die Illusion, mein Leben leicht verändern zu können.

Wenn es mehr als 30.000 Coaches gibt – lohnt sich das für alle finanziell?
Es wird oft der Eindruck erweckt, dass die ein gutes Einkommen haben, aber das scheint nur ein kleiner Kreis zu sein. Die Stundensätze sind extrem unterschiedlich. Die allermeisten können davon allein nicht leben. Die sind dann im Hauptberuf vielleicht Heilpraktiker oder Reitlehrerin.

Immer wieder gibt es Kritik, dass Coaches ihre Vita aufhübschen und möglichst wissenschaftlich darstellen. Ist das ein verbreitetes Problem?
Ich glaube, dass das dazugehört. Viele Lebensläufe sind stilisiert. Anfang der 2000er-Jahre war die Szene noch viel homogener. Es ging thematisch vor allem darum, wirtschaftlich erfolgreich zu sein, nach dem Motto: Jeder kann Millionär werden, schaut her, ich bin auch reich geworden und ich zeige euch, wie es geht.

Was hat sich verändert?
Heute ist das noch geschickter, weil man es besser allgemein verkaufen kann: ‚Du musst dein Leben verbessern.‘ Was mir aufgefallen ist: Die sind fast alle angeblich Bestsellerautoren. Klingt natürlich gut, der Begriff Bestseller ist aber nicht definiert. Ich habe von den meisten Leuten zuvor noch nie gehört.

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Einer dieser Bestsellerautoren ist Professor für Führung und Organisation an einer Münchner Business School. Er bezeichnet sich als „meistgelesener Wirtschaftspsychologe Kontinentaleuropas“. Eine Klage mit dem Ziel, ihm die Bezeichnung als Wirtschaftspsychologe zu verbieten, scheiterte. Das Oberlandesgericht München entschied, es reiche aus, Psychologie im zweiten Hauptfach studiert zu haben. Finden Sie es problematisch, dass die Berufsbezeichnung des Wirtschaftspsychologen nicht geschützt ist?
Ich glaube, sie ist zu wenig geschützt. Es müsste klare Regeln geben, wie hoch der prozentuale Anteil von Psychologie-Modulen in einem Studiengang sein muss, damit man von einem Psychologie- oder Wirtschaftspsychologie-Abschluss reden darf. Dieser Anteil sollte meiner Meinung nach mindestens bei 70 Prozent liegen. Niemand, der drei Module mit medizinischen Inhalten in seinem Studium hatte, darf sich später Mediziner nennen. Dahin müssen wir auch in der Wirtschaftspsychologie kommen.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Interviews stand in der letzten Frage, es genüge, „den Forschungsgegenstand im Nebenfach studiert zu haben“. Der besagte Professor aus München hat während seines Philosophiestudiums aber Psychologie als zweites Hauptfach belegt. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

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