Doch woran liegt es, dass frühkindliche Verletzungen den einen stärker machen und den anderen schwächer? Dass manche an ihren Prägungen und Zurichtungen zugrunde gehen, während andere wachsen? Liegt es an den Genen? An der Erziehung durch die Eltern? Oder lässt sich mentale Widerstandskraft erlernen?
Der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung beschreibt den Komplex Anfang des 20. Jahrhunderts in seiner Persönlichkeitstheorie als eine „Gesamtheit von Gefühlen, Gedanken und Fantasien“. Ein Komplex entsteht dadurch, dass Menschen, oft im frühen Kindesalter, auf ein bestimmtes Verhalten eine bestimmte Reaktion erfahren. Das ist erst mal nicht beunruhigend.
Heikel wird es, wenn die Betroffenen sich einbilden, ihr Verhalten ändern zu müssen, um akzeptiert zu werden. Oder wenn sie daran glauben, dass ihnen von Natur aus gewisse Fähigkeiten fehlen.
Schlechter Chef? So werden Führungsschwächen zu Entwicklungschance für die Mitarbeiter
Der Mangel an Anerkennung macht vielen Mitarbeitern zu schaffen. Wichtiger als irgendein Lob von außen ist jedoch die Selbstachtung. Letzten Endes sollten wir so unabhängig wie möglich von äußerer Anerkennung werden. Wir dürfen andere nicht zu unseren Richtern machen. „Der Gerichtshof ist im Innern des Menschen aufgeschlagen.“ konstatierte Immanuel Kant. Die Stärkung der Selbstachtung wäre die angemessene Reaktion auf fehlendes Lob vom Chef.
Quelle: Diplom-Psychologin Marion Lemper-Pychlau
Es gibt sie noch, die autoritären Chefs. Entweder unterwirft man sich ihnen oder man bietet ihnen die Stirn. Wer sich wehrt, muss mit Schwierigkeiten rechnen. Andererseits übt er sich darin, eigene Interessen zu behaupten, Konflikte zu ertragen und seine Selbstachtung zu wahren.
Es geht nicht immer anständig zu. Vorgesetzte mit einer fragwürdigen Ethik sollten mehr als Empörung auslösen. Da ein Angestelltenverhältnis nicht von der Verantwortung für das Ganze entbindet, ist es wichtig, in solchen Fällen Widerstand zu leisten. Mitarbeiter müssen für ihre Werte einstehen. Gut sein stärkt die Selbstachtung und fühlt sich gut an. Feigheit eher nicht.
Manchmal sind Vorgesetzte unsicher und scheuen vor Entscheidungen zurück. Die Unentschlossenheit der Führungskraft kann Anlass für die Eigeninitiative ihrer Mitarbeiter sein. Sei es, indem man Überzeugungsarbeit leistet, Unterstützung anbietet oder Fakten schafft. Sicher ist: Wo Vorgesetzte ihre Spielräume nicht nutzen, erweitern sich die der Mitarbeiter.
Offenbar geben Vorgesetzte mit ihrem Mangel an sozialer Kompetenz den Mitarbeitern einen häufigen Grund zum Klagen. Für die Mitarbeiter kann das eine ausgezeichnete Gelegenheit sein, die eigene soziale Kompetenz zu verbessern: Sie können beispielsweise lernen, strategisch zu denken, diplomatischer zu kommunizieren, geschickt Einfluss auszuüben, nicht alles persönlich zu nehmen etc.
Als Pionier der Erforschung menschlicher Makel gilt der österreichische Psychotherapeut Alfred Adler, der von 1870 bis 1937 gelebt hat. Für ihn gab es nur zwei Typen des Umgangs mit dem Gefühl der eigenen Unvollkommenheit: Die einen ergeben sich ihrem Schicksal, trauen sich immer weniger zu und ziehen sich zurück. Die anderen kompensieren ihre Schwächen.
Der Klassiker ist der unsportliche Junge, der seine körperlichen Defizite mit geistiger Exzellenz ausgleicht. Doch gerade im Job äußern sich Komplexe nicht immer positiv, das gilt insbesondere für Chefs. Der Psychologe Manfred Kets de Vries, der an der französischen Eliteuniversität Insead lehrt, hat mehrere Komplexe identifiziert, die ihm im Berufsleben immer wieder begegnet sind. Einen besonders gefährlichen bezeichnet er als Gott-Komplex.
Die Betroffenen haben eine besondere Anspruchshaltung. Sie glauben, dass ihnen die Welt etwas schuldig ist. Die Ursache liegt meist in der Beziehung zu den Eltern. Entweder haben die sich zu viel um ihre Kinder gekümmert – oder zu wenig. Das Ergebnis ist das Gleiche: Die Kinder entwickeln kein gesundes Selbstbewusstsein und können sich nicht richtig einschätzen. Diese Unsicherheit müssen sie irgendwie wettmachen – und manche kaschieren es mit einem Gefühl der Allmacht und Unantastbarkeit. Gegenüber den Angestellten verhalten sich solche Charaktere häufig arrogant und hochmütig. Ihre eigenen Verdienste heben sie stets hervor, denn sie brauchen die Anerkennung anderer wie die Luft zum Atmen.
Dieses Gefühl kennt Bodo Janssen nur zu gut. „Ich hatte schon immer den Hang zum Hochmut“, sagt der Chef der Hotelkette Upstalsboom. „Aber mit steigendem Unternehmenserfolg wurde es immer schlimmer.“
Die Mitarbeiter wollen einen Chef, keinen König
Janssens prägende Kindheitserinnerung führt ihn zurück in ein Führungsseminar, in das ihn sein Vater mitgenommen hatte. Er war damals 15 Jahre alt, sein Papa sprach dort mit einem anderen Hotelier und fragte ihn nach dessen Erfolgsformel. Der Vater wollte wissen, wie er mit seiner kleineren Kette weiter wachsen könne. „Als ich dieses Gespräch hörte, habe ich das als Arbeitsauftrag verstanden“, sagt Janssen. „Ich dachte: Mach’ dir keine Sorgen, Papa.“
Von da an war es sein Ziel, dem Vater zu zeigen, wie erfolgreich er sein kann. 18 Jahre später bekam er die Gelegenheit dazu. Janssen übernahm nach dem plötzlichen Tod des Vaters das Familienunternehmen. Sofort stürzte er sich in die Arbeit. Kaufte die Hotels auf, die sein Vater nur verwaltet hatte. Die Umsätze stiegen, dem Unternehmen ging es besser denn je. Zumindest finanziell. Seine Angestellten sahen das anders. Janssen, sagten sie bald, stolziere wie ein König durch sein Unternehmen, behandle Mitarbeiter herablassend, wisse alles besser. Viele kündigten – bis Janssen eine Mitarbeiterbefragung in Auftrag gab. Denn die kam zu einem so klaren wie vernichtenden Urteil: Seine Angestellten wünschten sich vor allem einen anderen Chef. Janssen war geschockt – und beschloss, anderthalb Jahre lang regelmäßig ins Kloster zu gehen. Danach war er ein anderer Mensch, nahm sich vor, seinen Führungsstil zu ändern.