Psychologische Studie Wer braucht schon Harmonie – die meisten Beschäftigten streben nach Macht

Die große Mehrheit der Arbeitnehmer strebt nach Macht. Quelle: Getty Images

Viele Beschäftigte treibt im Job vor allem Macht an, zeigt eine Studie. Soziale Bindungen sind für sie Nebensache. Führungskräfte müssen ganz anders mit diesen Mitarbeitern umgehen. Sonst wird der Machthunger zur Gefahr.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Als David Scheffer die Ergebnisse sah, war er entsetzt. Dabei kennt sich der 52-jährige Psychologe mit menschlichen Eigenheiten von Berufs wegen eigentlich bestens aus. Und doch hätte Scheffer nicht gedacht, dass fast 60 Prozent der Beschäftigten im Beruf von einem Machtmotiv getrieben werden. Das fand Scheffer für die Hamburger Unternehmensberatung Pawlik Consultants heraus. Scheffer, Professor für Wirtschaftspsychologie an der Nordakademie Hochschule der Wirtschaft in Hamburg, sagt: „Machtmotivierte wollen immer im Mittelpunkt stehen. Sie wollen bei Projekten die Fäden in der Hand haben – und Einfluss auf andere Personen ausüben.“

Macht, Leistung und Bindung, das sind laut Motivationsforschern die bedeutendsten Motive im Berufsalltag. „Das sind Kraftquellen, die uns die Evolution mitgegeben hat“, sagt Scheffer. Und während 57 Prozent der Mitarbeiter im Job vor allem nach Macht streben, besitzen 28 Prozent ein dominantes Leistungsmotiv. Ihnen geht es primär darum, die bestmögliche Arbeit zu erbringen. Nur zwölf Prozent der Probanden machen sich morgens vor allem deshalb auf den Weg zur Arbeit, um die Beziehungen zu den Kollegen zu pflegen – diese kleinste Gruppe treibt das Bindungsmotiv an.

Psychologe Scheffer ging vor der Auswertung davon aus, dass die Verteilung der Motive bei Berufstätigen gleichmäßig ist – also bei jeweils einem Drittel liegt. Falsch gedacht. Für die aktuelle Studie wertete Scheffer mit einem Team Antworten von 7031 Führungskräften und Angestellten aus dem Zeitraum von 2014 bis 2021 aus. Die Probanden mussten in einem anderthalbstündigen Test unter anderem zu 15 verschiedenen Zeichnungen auf Basis offener Fragen eine Geschichte erzählen. Die Bilder, die viele Arbeitssituationen umfassen, ließen Scheffer und seine Kollegen anfertigen. Zu sehen sind Strichmännchen, die mal einen Berg hochkraxeln und mal am Schreibtisch vor einem Dokument sitzen. Die Probanden suchen sich bei jedem Bild eine Person aus und beschreiben in eigenen Worten, was diese gerade tut und fühlt. Ein Team aus Diplompsychologen wertete die Geschichten aus. Pro Proband bedeutet das für die Psychologen rund eine Stunde an Arbeit.

Zu Abbildungen wie dieser mussten die Teilnehmer offene Fragen beantworten und eine Geschichte erzählen. Dabei können sie sich aussuchen, auf welche Person sich ihre Ausführungen beziehen. Quelle: Pawlik Consultants

Gänzlich neu sind die Ergebnisse, die der WirtschaftsWoche vor Veröffentlichung vorlagen, nicht. Schon der US-amerikanische Verhaltenspsychologe David McClelland, der an der Harvard University lehrte und forschte, veröffentlichte 1961 seine Theorie rund um die Motivation des Menschen. Damals mit den drei wesentlichen Bedürfnissen: Erfolg, Macht und Anschluss. „McClelland beobachtete bereits in den Sechzigern, dass das Machtmotiv immer dominanter wird“, sagt auch Scheffer.

Seine Studie liefert nun einen quantitativen Beleg dafür, wie groß die Bedeutung von Macht im Berufsalltag ist. Wie sehr der Wunsch nach Einflussnahme Mitarbeiter antreibt. Und sie bietet vor allem Führungskräften die Erkenntnis: Wenn meine Mitarbeiter unterschiedliche Motive antreiben, muss ich sie völlig unterschiedlich behandeln. Allen voran unterdrückte oder unerkannte Machtmotive in der Belegschaft können für Unternehmen sogar zum Geschäftsrisiko werden.

Zuspätkommen als Ausdruck von Macht

Das weiß Joachim Pawlik, der die Beratung gegründet hat und sie als Geschäftsführer leitet. Pawlik selbst hat dem Test nach ein ausgeprägtes Leistungsmotiv und ein vorhandenes, aber deutlich geringeres Machtmotiv, verrät er. Pawlik weiß aus der Praxis, wie man ein Machtmotiv im Unternehmen erkennt. „Bei Topmanagern“, sagt der Unternehmensberater, „drückt sich das Machtmotiv etwa dadurch aus, dass sie zu Terminen zu spät kommen, aber sich nicht entschuldigen. Sie haben ihrer Meinung nach ja so viel mehr zu tun als die anderen Mitarbeiter.“

Joachim Pawlik (l.) gründete 1996 die nach ihm benannte Unternehmensberatung. David Scheffer leitet den Studiengang Wirtschaftspsychologie an der Fachhochschule Nordakademie, Hochschule der Wirtschaft, wo er auch die Professur für Personalmanagement und Wirtschaftspsychologie innehat. Quelle: Jörg Brockstedt

Da das Machtmotiv auch auf unteren Hierarchieebenen vertreten ist, lässt es sich auch hier beobachten. Nur können diese Mitarbeiter sich in der Regel keine Verspätung im großen Meeting erlauben. Machtmotivierte auf den unteren Ebenen strebten danach, „Kollegen zu beeinflussen und deren Ideen im Unternehmen als eigene zu verkaufen“, sagt Pawlik. „So bringen sie sich selbst voran, indem sie an den guten Ideen anderer partizipieren.“ Dieser Machtdrang kann Leistungsmotivierte und Anschlussmotivierte schnell einschüchtern.

Allein die Erkenntnis, dass Mitarbeiter machtmotiviert sind, bezeichnet Pawlik deshalb als die „halbe Miete“. Unternehmen wie Haribo, die New Work SE oder Engel & Völkers nutzen eine Software von Pawlik mit dem Test, um bei Bewerbern und Mitarbeitern festzustellen, welche Motive sie antreiben. So wollen sie diese fördern und die individuelle Führung dieser Mitarbeiter verbessern. Männer und Frauen sind den Daten nach fast gleich stark von einem Machtmotiv getrieben. Der Unterschied: „Wenn auf den Bildern Gruppensituationen dargestellt sind, lassen sich Männer schneller auf Machtkämpfe ein – und Frauen eben nicht“, sagt Psychologe Scheffer. „In Zweiersituationen sind Frauen aber genauso machtmotiviert. Dafür konnten wir bei den Teilnehmerinnen ein deutlich höheres Bindungsmotiv feststellen“

Dabei muss der Machtdrang nicht negativ sein. Der starke Wunsch nach Einflussnahme, könne eine Organisation zu „Fortschritt und Innovation“ treiben und Menschen weiterentwickeln, sagt Pawlik. Wer allerdings von einem unentdeckten Machtmotiv angetrieben wird, handele häufig ohne Moral und Ethik – und gefährde den gesamten Betrieb. „Denn Personen, deren Machtmotiv unerkannt bleibt, nicht befriedigt wird und die es unbewusst unterdrücken, handeln nicht unbedingt loyal, wenn der Chef in der Kritik steht.“

Kraftanstrengung: Scheffer erwartete, dass zu diesem Bild vor allem Antworten kommen, die sich dem Leistungsmotiv zuordnen lassen. Quelle: Pawlik Consultants

Zehn Mitarbeiter, zehn Führungsstile

Die psychologischen Erkenntnisse haben deshalb vor allem für Führungskräfte Konsequenzen. Jede Führungskraft sei laut Pawlik gut beraten, den machtmotivierten Mitarbeitern Verantwortung zu übertragen. „Die Vorgesetzten können diesen Mitarbeitern zum Beispiel Projekte übertragen und dabei möglichst wenig reinfunken. So können diese das Machtmotiv auch auf unteren Hierarchieebenen ausleben. Andernfalls sind die Mitarbeiter schnell frustriert, kündigen gar den Job oder boykottieren ihre Aufgaben“, sagt Pawlik.

Außerdem gilt es zwischen den macht-, bindungs- und leistungsorientierten Mitarbeitern zu unterscheiden. „Eine Führungskraft mit zehn Mitarbeitern müsste eigentlich über zehn Führungsstile verfügen“, sagt Pawlik. Ganz konkret: „Wenn ein machtmotivierter Mitarbeiter ein Protokoll schreiben soll, darf sich die Führungskraft dafür entschuldigen, weil es keine Handlungsspielräume zulässt und ein klar hierarchischer Auftrag ist. Bei einem leistungsmotivierten Kollegen ist das kein Problem, er erwartet aber inhaltliches Feedback“, sagt Pawlik.

Ein anderes Problem ist der geringe Anteil der Bindungsmotivierten, den Scheffer als „schlechte Nachricht“ bezeichnet. „Schließlich braucht es die Kümmerer in Unternehmen, die den Zusammenhalt stärken und etwa dafür sorgen, dass Geburtstage gefeiert werden. Und wenn das Machtmotiv bei Personen stark ausgeprägt ist, das Bindungsmotiv wiederum nur sehr gering ist, dann sorgen diese Personen im Unternehmen für erhöhte Aggressivität und im politischen Kontext manchmal sogar kriegerische Konflikte.“

Das bedeuten die verschiedenen Business-Dresscodes

Die Geschichten rund um ein besonderes Bild lösten bei Scheffer so etwas wie Heiterkeit aus. Darauf zu sehen ist eine Person, die einen steilen und steinigen Hang hochkraxelt, über ihr ragt ein kleiner, fast unscheinbarer Pflanzenstummel aus dem Boden. Mehr nicht. Scheffer rechnete fest damit, dass sein Team aus Diplompsychologen die Geschichten beinahe ausnahmslos dem Leistungsmotiv zuordnen könnte. Dass das Männchen sich an die Spitze kämpft. Doch ein machtmotivierter Proband schrieb: „Versucht seinen Gegner, der ihn verfolgt, mit einem Stein loszuwerden“. Dabei ist auf der Darstellung nur die eine Person zu sehen. „Und auch das Bindungsmotiv tauchte in den Geschichten auf“, erzählt Scheffer. „So gab ein Teilnehmer an, dass die Person seiner Liebsten ein Edelweiß pflückt.“

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%