Reinhard Sprengers neues Buch Was richtige Führung ausmacht

In seinem neuen Buch "Das anständige Unternehmen" plädiert der erfolgreiche Managementautor Reinhard Sprenger dafür, Mitarbeitern mehr Freiheiten zu geben. Also: mehr Anstand durch Abstand. Ein Auszug. 

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Reinhard K. Sprengers

Wer einen Buchtitel wie „Das anständige Unternehmen“ liest, denkt wahrscheinlich an große Wirtschaftsskandale, an Korruption, Kartellabsprachen oder Insiderhandel. Aber für kriminelle Handlungen ist die Justiz zuständig, für die Beruhigung des Publikums gibt es Ethik-Kommissionen, für die sich blähende Werte-Orientierung die Öffentlichkeitsarbeiter in den Unternehmen.

Das anständige Unternehmen geht anders. Erstens, weil Anstand nicht im Gesetz steht. Anstand realisiert sich vielmehr auf der breiten (aber immer enger werdenden) Straße des Legalen. Zweitens, weil Wirtschaft für die meisten Menschen am eigenen Arbeitsplatz konkret wird, dort, wo sie fünf, acht, manchmal zwölf Stunden täglich verbringen. Was Menschen dort erleben, prägt sie für das Leben in der Zivilgesellschaft. Und die inneren Übergriffe der Firmen spiegeln nur die äußeren.

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Die rekrutierstarken Ideologien dieser Übergriffe - die Optimierung, die Vorsorge, die Fürsorge, die Transparenz, das Echte – haben vordergründig die Vernunft auf ihrer Seite, gar das Menschenfreundliche. Aber ihre Konsequenzen sind alles andere als menschenfreundlich: Entmündigung, Konformitätsdruck, Erniedrigungsbürokratie. Umzingelt von fürsorgenden, hilfreichen und wohlmeinenden Institutionen geben die Menschen so freiwillig und arglos ihre Freiheit auf und tauschen sie gegen Zielvorgaben, Frauenquote, Gesundheitsförderung und anonyme Mitarbeiterbefragungen. Das Grundgesetz sagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist falsch. Im Unternehmen wird sie täglich angetastet.

Dies muss gezeigt werden vorrangig für  den institutionellen Rahmen, innerhalb dessen sich Chef und Mitarbeiter bewegen, die Strukturen, die Führungsinstrumente, die Kommunikationen. Welches Menschenbild setzt dieser Rahmen voraus? Welche Form des Miteinander-Umgehens macht er unwahrscheinlich? Welche Grenze setzt und überschreitet er? Setzt man den Menschen als Freiheitswesen voraus, dann treten viele Institutionen dem Menschen zu nahe, sind zum Teil hochinvasiv.

Als Deutschlands profiliertester Managementberater und einer der wichtigsten Vordenker der Wirtschaft berät Reinhard K. Sprenger alle wichtigen Dax-100-Unternehmen. (zum Vergrößern bitte anklicken) Quelle: Tobias Ebert

Dagegen setze ich den Anstand durch Abstand.  Aus dem Gebot des Anstands leite ich fünf Prinzipien als Handlungsempfehlungen ab. Diese Prinzipien sind aus guten Gründen negativ formuliert. Wir müssen uns dringend von einer Logik lösen, die die Unternehmen zusehends verkrustet: Im Management kommt immer etwas hinzu. Selten sagt jemand: „Das machen wir nicht mehr.“ Oder: „Das fangen wir erst gar nicht an.“ Eine negative Unternehmensethik hingegen zeigt, was zu lassen ist. In Zeiten disruptiver Veränderungen reicht das Reparieren und Verbessern nicht mehr. Wir müssen uns ersatzlos trennen: von etlichen Werten und Institutionen, die angeblich bewährt sind, die aber mit dem Menschen als Freiheitswesen nicht vereinbar sind.

Fünf Gebote für mehr Anstand im Unternehmen

1. Betrachte Mitarbeiter nicht als bloße Mittel.

Der Mitarbeiter ist ein Gegenüber, dem wir auf Augenhöhe begegnen und der seinen Zweck in sich selber trägt. Unter dieser Perspektive setzt sich das anständige Unternehmen nicht zum Selbstzweck, es verzichtet auf Zielvorgaben, fordert keine Identifikation, macht die Mitarbeiter nicht zu Reiz-Reaktions-Automaten und verabschiedet sich von einer Managementvergütung, die den Kooperationsvorrang im Unternehmen dementiert.

Was gute Führung ausmacht

2. Behandle Mitarbeiter nicht wie Kinder.

Der Mitarbeiter wird als Erwachsener gesehen, der kompetent und in der Lage ist, angemessene Entscheidungen zu fällen. Das anständige Unternehmen verzichtet daher auf erniedrigende Forderungen nach Vorbildlichkeit oder Fürsorgepflicht der Führung, führt keine Mitarbeiterbefragungen durch (schon gar keine anonymisierten), und unterlässt jede Form der Gesundheitsförderung: Schwächung der Selbstverantwortung, Veröffentlichung unseres Körpers und Konformität sind ein zu hoher Preis.

3. Versuche nicht, Menschen zu verbessern.

Der Mitarbeiter wird anerkannt als Individuum, den wir so nehmen, wie er ist, und dem wir einen Arbeitsrahmen gestalten, der sein Sosein zur Stärke werden lässt. Unter diesem Prinzip verzichtet das anständige Unternehmen auf Führungsstil-Vorgaben, auf Ethik-Kommunikationen, auf Feedback-Runden, auf Rennlisten und auf die Pathologisierung des Mannes durch Führungsseminare.

4. Verletze nicht die Autonomie der Mitarbeiter.

Der Mitarbeiter als Mensch, dem wir vertrauen und der selbstverantwortlich entscheidet, wie er im Rahmen seiner Aufgabe handelt. Das anständige Unternehmen verzichtet auf jede Therapeutisierung der Kooperationsverhältnisse, verspricht keinen sicheren Arbeitsplatz, lässt vor allem bei der Trennung den Anstand nicht vermissen, versucht nicht, Mitarbeiter zu binden und verzichtet auf herabsetzende Kontrolle. Von seinen Führungskräften fordert es Anstand, keine Authentizität.

5. Bezeichne nichts als alternativlos.

Der Mitarbeiter ist ein Wählender, der Wertkonflikte anerkennt, dem wir Mehrdeutigkeit zumuten und auch den Preis, der bei Entscheidungen zu zahlen ist. Das anständige Unternehmen fordert keine Kultur gegenleistungsloser Wertschätzung, es versagt sich jeder kommunikativen Formlosigkeit, es entehrt nicht die Hierarchie, verzichtet auf den unterschiedslosen Einsatz des Englischen als Imperialsprache, fördert keine Frauen und ist zurückhaltend im Umgang mit einer der größten Naivitäten unserer Zeit – der Transparenz.

Die Wende, um die es geht, ist das Wiederernstnehmen von Begriffen wie Erwachsensein, Eigenverantwortung, Stolz, Selbsthilfe, Form, Ehre, Tabu, Würde. Deshalb ist „Das anständige Unternehmen“  auch ein Manifest für das heraufziehende Innovationszeitalter.

Nehmen wir als Beispiel das Feedback. Dürfte ich ein Unwort der Unternehmensführung nennen, Feedback stäche hervor. Zunächst sagt ein Feedback mehr über den Feedback-Geber aus als über den Feedback-Nehmer. Warum sollte es mich kümmern? Zudem ignoriert ein Feedback  die wechselseitige Verhaltensbeeinflussung. Über einen isolierbaren Anderen können wir keine Aussage machen, die sich nicht in Selbstbezüglichkeit verheddert. Außerdem kenne ich keine erfolgreiche Führungskraft, die durch Feedback erfolgreich wurde. Keine von ihnen hat sich je an die durchschnittliche Vernunft verloren.

Wir brauchen raumöffnende Führungskräfte

Die Praxis spiegelt diese Schieflage: Feedbackrunden werden als lästig empfunden, verschoben, inhaltlich entleert. Aber einige unternehmenskulturelle Platzanweiser sind derart überzeugt von den Segnungen des Instruments, dass man die Führungskräfte nicht selten dazu zwingt, Feedback zu geben. Überspielt wird dabei das Wesentliche: dass das Feedbackgespräch offenbar nicht wichtig ist. Sonst würde es ohne Murren durchgeführt. Feedback heißt: Der Markt lässt dem Unternehmen offenbar genug Zeit, sie zu verschwenden.

Diese Methoden sollten Manager kennen
1. Die Hawthorne-ExperimenteDas besagt diese Theorie: Im Jahr 1920 führte Elton Mayo von der Universität Massachusetts mit Fabrikarbeitern von General Electric im Werk in Hawthorne eine Reihe von Experimenten durch. Die zeigten, dass Mitarbeiter motivierter sind, wenn sie sich einer Gruppe zugehörig fühlen. Jeder wollte einen "guten Kumpel" haben - und auch als einer angesehen werden.  So wenden Sie diese Theorie an: Teambuilding ist entscheidend. Natürlich wollen Sie, dass Ihre Mitarbeiter als Team arbeiten. Sie sollten Sie aber auch dazu ermuntern, kleinere Gruppen zu bilden, in denen das Zugehörigkeitsgefühl stärker ist. Das motiviert! Fördern Sie außerdem den gutmütigen Wettbewerb zwischen diesen Minigruppen. Ein gesundes Maß an Ehrgeiz steigert die Produktivität! Und nicht vergessen: Jeder möchte das Gefühl haben, wertgeschätzt zu werden. Behandeln Sie Ihre Kollegen und Vorgesetzten also respektvoll und als intelligente Individuen. Dann können Sie fast schon dabei zuschauen, wie die Produktivität in Ihrem Unternehmen wächst. Quelle: Fotolia
2. Das VerhaltensgitterDas besagt die Theorie: Was bedeutet das Wort Führung eigentlich? Robert Blake und Jane Mouton haben dazu ein Verhaltensgitter erstellt. Es gibt an, wie sehr sich eine Führungskraft um die Erledigung der Aufgabe und um ihre Mitarbeiter kümmert. Ihre Führungstypen tragen schönen Namen: Der Glacéhandschuh-Manager interessiert sich weniger für die Erledigung der Aufgaben als für die sozialen Bedürfnisse seiner Kollegen. Der Befehl-Gehorsam-Manager will dagegen strikt die Aufgaben erledigen. Der Organisationsmanager sorgt sich permanent um das Wohlergehen der Mitarbeiter, will aber auch die Unternehmensziele erreichen, während der Überlebensmanager sich weder für die Kollegen noch für die Arbeit interessiert. Der Team-Manager vereint die Aufgabenerfüllung mit guten Mitarbeiterbeziehungen. Wenig überraschend: Blake und Mounton empfehlen allen Managern, letzteren Ansatz zu verwenden.So wenden Sie diese Theorie an: Nutzen Sie diese Theorie, um Ihren bevorzugten Führungsstil zu untermauern. Erkennen Sie aber auch an, dass Sie Ihren Stil anpassen können, wenn es die Umstände verlangen. Sie sind ein Team-Manager? Toll! Aber passen Sie auf, dass Sie engagiert wirken, nicht rasend oder kriecherisch. Glacéhandschuhe bringen Sie auf Dauer nicht weiter, die Arbeit ruft! Organisationsmanagement kann schön und gut sein, verprellt aber dauerhaft die Mitarbeiter. Wenn Sie sich als Überlebensmanager sehen, sind Sie entweder im falschen Unternehmen oder Sie sollten besser den Beruf wechseln.  Lange Rede , kurzer Sinn: Finden Sie Ihren Stil. Sie werden merken, dass es keinen Management-Stil gibt, der pauschal in allen Situationen funktioniert. Bleiben Sie also flexibel. Quelle: Fotolia
3. Maslows BedürfnispyramideDas besagt diese Theorie: Menschen haben Bedürfnisse, die sie erfüllen wollen. Abraham Maslows Pyramide stellt eine Hierarchie von Bedürfnissen auf, die von unten nach oben erfüllt werden müssen. Diese Ebenen lauten: Biologische Grundbedürfnisse (Nahrung, Wärme, Ruhe), Sicherheit (Gewissheit, Freiheit von Angst), Sozialbedürfnis (Zuneigung und Liebe), Anerkennung und Wertschätzung (Reputation und Respekt) und Selbstverwirklichung. Wurde eine Ebene nicht befriedigt, kann man nicht auf die nächsthöhere Ebene aufsteigen.  So wenden Sie diese Theorie an: Laut James McGrath und Bob Bates ist die Anwendung simpel: Sorgen Sie dafür, dass die Grundbedürfnisse Ihres Teams erfüllt werden. Nahrung, Wasser und eine ruhige Arbeitsumgebung können da schon einmal nicht schaden. Auch soziale Interaktion ist wichtig. In manchen Firmen kommen die Mitarbeiter freitags in legerer Kleidung – das fördert die Interaktion untereinander. Glücklich machen Sie Ihre Angestellten auch mit positivem Feedback für anspruchsvolle Aufgaben. Quelle: Fotolia
4. Maccobys Spielmacher-TheorieDas besagt diese Theorie: Michael Maccoby identifizierte vier Temperamente, die im Handeln von Teamleitern zu finden sind: Der Dschungelkämpfer entfaltet sich durch Macht und will unbedingt gewinnen. Der Spielmacher liebt Risiken und neue Ideen. Der Handwerker fordert, dass sich die Mitarbeiter an seine Ideen halten und der Firmenmensch mag nichts so sehr wie Disziplin und Loyalität.So wenden Sie diese Theorie an: Erstmal sollten Sie herausfinden, welchem Stereotyp Sie entsprechen. Tun Sie dann etwas, um die positiven Aspekte Ihre Charakters zu betonen und die negativen zu vermindern. Überlegen Sie sich auch, bestimmte Tugenden der anderen Temperamente zu übernehmen. Machen Sie sich klar, dass in verschiedenen Entwicklungsstadien eines Themas verschiedene Typen benötigt werden. Am Anfang sind Handwerker unentbehrlich, die Werkzeuge zum Schutz herstellen. Diese können dann die Dschungelkämpfer nutzen, um die Umgebung zu erobern und zu sichern. Dann sind die Firmenmenschen gefragt, die die Gruppe sozialisieren. Am Ende kommen die Spielmacher zum Zug und treiben das Team auf höhere Leistungsebenen. Quelle: dpa
5. Das Risiko-Feedback-ModellDas besagt diese Theorie: Unternehmenskulturen sind abhängig vom Maß an Risiko und der Schnelligkeit des Feedbacks. Terrence Deal und Allan Kennedy unterscheiden vier Typen der Unternehmenskultur: 1. Fleißig arbeiten, fleißig feiern: Hier bedarf es schneller Rückmeldungen, was die Kundenzufriedenheit angeht. 2. Harter Mann, Macho: hohe Risiken, viele Individualisten, schnelles Feedback. 3. Das Unternehmen verwetten: Höchst riskante Entscheidungen sind alltäglich, aber nachhaltiges Denken fehlt. 4. Prozess: Bürokratisch, wenig Lust am Risiko, langsames Feedback.So wenden Sie diese Theorie an: Erstellen Sie eine Liste von Entscheidungen, die Ihr Unternehmen im vergangenen Jahr getroffen hat. Unterteilen sie sie in geringes, mittleres und großes Risiko. Dann können Sie überlegen, wie schnell das Unternehmen mit einem Feedback rechnet. Gibt es Entscheidungen, nach denen Sie nachts nicht schlafen konnten? Das ist ein guter Indikator dafür, welches Maß an Unsicherheit und Risiko Sie aushalten. Quelle: REUTERS
6. Das VeränderungsmodellDas besagt diese Theorie: Auftauen, verändern, wieder einfrieren - das ist das Motto dieser Theorie. Kurt Lewin vergleicht sein Modell mit einem Eiswürfel, den man in einen Eiskegel verwandelt. Nach seiner Argumentation motiviert man durch den dreistufigen Prozess die Menschen dazu, dass sie den Wandel wollen.So wenden Sie diese Theorie an: Seien Sie sich darüber im Klaren, welche Veränderungen Sie vornehmen wollen und warum sie nötig sind. Danach steht die Gewinnung von Unterstützung im Mittelpunkt. Dabei heißt es geschickt sein: Diejenigen, die für das Geld zuständig sind, wollen finanzielle Gewinne sehen. Die Personalabteilung dagegen fordert positive Auswirkungen auf die Mitarbeiter. Aber unterschätzen Sie nicht die Macht der Kollegen: Sie müssen die Vorteile der Veränderung verstehen - das ist entscheidend für den Erfolg. Quelle: dpa
7. Die neue moderne MethodeDas besagt diese Theorie: Die Mischung macht’s, sagen James Quinn, Gary Hamel und C.K. Prahalad. Ihre Theorie besagt, dass Unternehmen moderne und postmoderne Planungsmethoden mischen sollten. Modern heißt: Das Management erkennt die eigenen Vorstellungen der Mitarbeiter und greift ihre Ideen auf. Jede Veränderung wird dabei in eine Reihe kleinerer Veränderungen unterteilt und das Management beobachtet, wie jede kleine Veränderung gelaufen ist, bevor es die nächste umsetzt.So wenden Sie diese Theorie an: Finden Sie heraus, wie Ihr Unternehmen plant. Sie können dann mit Mitarbeitern sprechen, die Kundenkontakt haben, um herauszufinden, was unter der Oberfläche des Marktes brodelt. Wählen Sie immer das neue, moderne Planungsmodell, weil es die Wirklichkeit am besten wiedergibt. Nichts ist zu 100 Prozent vorhersehbar. Deswegen sollten Sie Ihre Mitarbeiter so schulen, dass sie flexibel, spontan und kreativ auf die Ansprüche von Kunden reagieren können.   Quelle: dpa

Einspruch: Aber nur durch Feedback kann man lernen! Abgelehnt: Man erfährt durch ein Feedback über sich selbst überhaupt nichts. Man erfährt nur etwas darüber, wie andere auf einen reagieren. Und unter Machtbedingungen wird nahegelegt, sich den Erwartungen anderer zu beugen. Das kann karrieretechnisch nützlich sein, hat aber mit Lernen nichts zu tun. Sondern mit Anpassen. Das alles drängt zur Konformität; man will alles und jeden zur Ähnlichkeit hinabfeedbacken. Die anschließende Therapieempfehlung kommt dann nicht ohne Drohung aus. Man hat wohl seine Eigenart längst verloren, wenn man durch das penetrante Rückmelden und das Fegefeuer der Beurteilungen gelaufen ist.

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Das verdichtet sich beim sogenannten 360-Grad-Feedback zu einer veritablen Disziplinierungsanlage. Man ist gleichsam umzingelt von Punktrichtern. Anstelle des Interpretationsmonopols, das ein Urteil spricht und das Konsequenzen hat, tritt ein leerer Meinungspluralismus, der beliebige Sichtweisen beliebiger Beobachter aggregiert. Überall könnte man jemandem auf  die Füße treten, überall muss man mit Abstrafung rechnen. Und das Perfide daran: Man muss diese Beschämung auch noch gut finden. Das so erzeugte Einschließungsmilieu schreibt dem Individuum eine hochaufmerksame, nach innen gerichtete Sensibilität vor. Ängstlich muss man aufpassen, dass man nirgendwo aneckt. Hilft das auch auf dem äußeren Markt der Kunden und Absatzmärkte?

Wir haben hier ein typisches Beispiel für eine demütigende Bürokratie, die lediglich die internen Unterscheidungsmärkte mit Spielmaterial versorgt. Wir können sicher sein: Der Kunde interessiert sich nicht für unsere Feedbackrunden. Aber bei ihm müssen wir den Wettbewerb gewinnen, nicht auf den Kinderspielplätzen der Organisation.

Nebenbei wird die Therapeutisierung betrieblichen Handelns weiter vorangetrieben: Nach einem 360-Grad-Feedback darf kein Manager mit negativen Ergebnissen alleingelassen werden - weshalb man ihm einen Coach zur Seite stellt, mit dem der Manager unter vier Augen die Ergebnisse besprechen kann. Ohne diese Hilfe besteht die Gefahr, dass Chefs mit der Kritik nicht fertig werden. Das nennt man wohl „Betreutes Arbeiten“.

Das Feedback steht als Beispiel für viele. Gerade in Situationen des Umbruchs, in denen Traditionelles rasend schnell veraltet und Moral nicht mehr verbindlich sein kann, brauchen wir Konzepte, die Innen und Außen, Privat und Öffentlich, Ich und Wir unterscheiden. Die das Gleichgewicht finden zwischen Vertrauens- und Misstrauenssphären, das Wechselspiel von Nähe und Distanz. Die sich leidenschaftlich kühl wehren gegen den Kult des Authentischen und der Transparenz, gegen Grenzüberschreitungen und Gesinnungskitsch, gegen die Ideologie des Echten und Aufrichtigen. Und wir brauchen Führungskräfte, die wieder für Grenzen und Respekt streiten, für Individualität und Differenz, für Zurückhaltung und Höflichkeit. Für Anstand durch Abstand. Wir brauchen keine raumfüllenden Führungskräfte, sondern raumöffnende.

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