Wer einen Buchtitel wie „Das anständige Unternehmen“ liest, denkt wahrscheinlich an große Wirtschaftsskandale, an Korruption, Kartellabsprachen oder Insiderhandel. Aber für kriminelle Handlungen ist die Justiz zuständig, für die Beruhigung des Publikums gibt es Ethik-Kommissionen, für die sich blähende Werte-Orientierung die Öffentlichkeitsarbeiter in den Unternehmen.
Das anständige Unternehmen geht anders. Erstens, weil Anstand nicht im Gesetz steht. Anstand realisiert sich vielmehr auf der breiten (aber immer enger werdenden) Straße des Legalen. Zweitens, weil Wirtschaft für die meisten Menschen am eigenen Arbeitsplatz konkret wird, dort, wo sie fünf, acht, manchmal zwölf Stunden täglich verbringen. Was Menschen dort erleben, prägt sie für das Leben in der Zivilgesellschaft. Und die inneren Übergriffe der Firmen spiegeln nur die äußeren.
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Reinhard Sprenger zählt zu den renommiertesten deutschsprachigen Managementautoren. Führungserfahrung sammelte er bei 3M und Adecco.
Die rekrutierstarken Ideologien dieser Übergriffe - die Optimierung, die Vorsorge, die Fürsorge, die Transparenz, das Echte – haben vordergründig die Vernunft auf ihrer Seite, gar das Menschenfreundliche. Aber ihre Konsequenzen sind alles andere als menschenfreundlich: Entmündigung, Konformitätsdruck, Erniedrigungsbürokratie. Umzingelt von fürsorgenden, hilfreichen und wohlmeinenden Institutionen geben die Menschen so freiwillig und arglos ihre Freiheit auf und tauschen sie gegen Zielvorgaben, Frauenquote, Gesundheitsförderung und anonyme Mitarbeiterbefragungen. Das Grundgesetz sagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist falsch. Im Unternehmen wird sie täglich angetastet.
Dies muss gezeigt werden vorrangig für den institutionellen Rahmen, innerhalb dessen sich Chef und Mitarbeiter bewegen, die Strukturen, die Führungsinstrumente, die Kommunikationen. Welches Menschenbild setzt dieser Rahmen voraus? Welche Form des Miteinander-Umgehens macht er unwahrscheinlich? Welche Grenze setzt und überschreitet er? Setzt man den Menschen als Freiheitswesen voraus, dann treten viele Institutionen dem Menschen zu nahe, sind zum Teil hochinvasiv.
Dagegen setze ich den Anstand durch Abstand. Aus dem Gebot des Anstands leite ich fünf Prinzipien als Handlungsempfehlungen ab. Diese Prinzipien sind aus guten Gründen negativ formuliert. Wir müssen uns dringend von einer Logik lösen, die die Unternehmen zusehends verkrustet: Im Management kommt immer etwas hinzu. Selten sagt jemand: „Das machen wir nicht mehr.“ Oder: „Das fangen wir erst gar nicht an.“ Eine negative Unternehmensethik hingegen zeigt, was zu lassen ist. In Zeiten disruptiver Veränderungen reicht das Reparieren und Verbessern nicht mehr. Wir müssen uns ersatzlos trennen: von etlichen Werten und Institutionen, die angeblich bewährt sind, die aber mit dem Menschen als Freiheitswesen nicht vereinbar sind.