Russen verlassen ihr Land „Man könnte von Schockmobilität sprechen“

Mit dem Zug von St. Petersburg nach Helsinki: Manche Russen verlassen ihr Land wohl dauerhaft. Quelle: imago images

Hunderttausende Ukrainer fliehen vor den russischen Truppen. Aber auch Russland haben bereits Zehntausende vor allem junge, gut ausgebildete Menschen verlassen. Sie wollen weg aus Putins Diktatur. Ein beginnender Braindrain, sagt Migrationsforscher Jochen Oltmer.

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WirtschaftsWoche: Herr Oltmer, seit die russische Regierung die Ukraine angreifen lässt, fliehen Hunderttausende Menschen aus dem Land. Aber auch Russland selbst haben offenbar bereits Zehntausende Menschen mehr überstürzt als nach sorgfältiger Planung verlassen. Sie sind nach Georgien, Armenien, in die Türkei ausgereist, weil sie den Krieg ihrer Regierung ablehnen, neue einschränkende Gesetze fürchten oder Putin schaden wollen, indem sie ihre Fähigkeiten und ihr Geld dem Land entziehen. Droht Russland als Folge der Ukraineinvasion ein Braindrain, der Verlust seiner besten Köpfe?
Jochen Oltmer: Wir haben noch keine Vorstellung, wie lange der Krieg andauern wird oder wie erheblich Sanktionen und andere Maßnahmen der russischen Wirtschaft schaden werden. Die ersten Signale aber sind so zu deuten, dass ein neuer Braindrain beginnt.

Russland musste die Erfahrung also schon früher machen?
Ja, zuletzt hatte sich die Situation Russlands allerdings – auf längere Sicht gesehen – stabilisiert: Nach einer relativ starken Abwanderung vieler Hochqualifizierter in den 90er bis Anfang der 2000er Jahre, hatte gerade in der Wissenschaft zuletzt eher eine Zirkulation eingesetzt. Gut ausgebildete Russinnen und Russen sind also weiterhin ins Ausland gegangen, in vielen Fällen aber auch wieder zurückgekommen – auch wenn die Abwanderung immer etwas stärker war als die Zuwanderung.

Zur Person

Studien zeigen, dass seit Wladimir Putins Amtsantritt im Jahr 2000 etwa 1,6 bis zwei Millionen Menschen Russland verlassen haben. Seit Putin 2012 nach vier Jahren als Ministerpräsident zurück ins Präsidentenamt wechselte, habe sich die Entwicklung beschleunigt. Bei 145 Millionen Menschen in einem Land mag das eine kleine Zahl sein – aber sind die Folgen nicht umso spürbarer, wenn die am besten Ausgebildeten gehen?
Russland ist auch eines der weltweit stärksten Einwanderungsländer, das darf man nicht vergessen. Der größte Teil dieser Zuwanderer stammt aus GUS-Staaten in Zentralasien, verfügt allerdings über eine relativ geringe Qualifikation und arbeitet in der Produktion, auf Baustellen und im Dienstleistungsbereich. Umgekehrt ist richtig, dass sich die Dynamik der Auswanderung seit 2014 wieder verändert hat. Nach der Annexion der Krim durch die russische Regierung verhängten viele Staaten Sanktionen, die Preise für Rohstoffe sind in dem Zeitraum gesunken. Außerdem bildet Russland viele Menschen gut aus, aber nicht alle werden am Ende auf ihrem Qualifikationsniveau beschäftigt. Diese Punkte haben wieder zu mehr Abwanderung Hochqualifizierter geführt. Und Putin hat vor allem ein riesiges Problem.

Welches?
In den vergangenen 20 Jahren haben sich Phasen guter Konjunktur und Krisen stets schnell abgewechselt. Dazu kommt die Abwertung des Rubels, die Abhängigkeit von Rohstoffexporten ist unverändert hoch. Die Grundneigung, Abwanderung in Betracht zu ziehen, ist in Russland daher stark.

Und das sieht die russische Regierung nicht als Problem, sondern eher als Weg, diejenigen loszuwerden, die gegen sie sind?
Es hat auch in Russland eine erhebliche Debatte darüber gegeben, wie man auf den Braindrain früherer Jahre reagieren soll. Zum einen hat die Regierung, wie Deutschland auch, Programme aufgesetzt, um diejenigen zurückzulocken, die man als wertvoll erachtet. Außerdem wurde Wert darauf gelegt, dass Menschen im staatlichen Sektor mehr verdienen, um diese Arbeitsplätze attraktiver zu machen. Drittens sollten internationale Kooperationen in der Forschung und die Ansiedlung globaler Unternehmen einen Beitrag leisten, damit man vom wissenschaftlichen und technischen Fortschritt nicht abgeschnitten wird.

Sehr viele ausländische Unternehmen, auch deutsche, ziehen sich jetzt aus Russland zurück, auch Wissenschaftskooperationen werden kaum wie gehabt weiterlaufen…
…und es steht zu erwarten, dass das die Innovationskraft in Russland deutlich vermindert. Das ist bedeutsam, weil diese Strategie zur Fachkräftesicherung dann nicht mehr funktioniert – und gut ausgebildete Menschen erst recht bestärkt werden könnten, das Land zu verlassen.

Schon seit 2012 sind die Menschen, die aus Russland emigrieren, Untersuchungen zufolge jünger, höher qualifiziert als der Durchschnitt und sprechen Fremdsprachen. Aktuelle Berichte sprechen von Aktivisten, Journalistinnen und Künstlern, die fürchten, angeklagt zu werden, nachdem ein neues Gesetz es verbietet, den Krieg auch Krieg zu nennen; aber auch von Bussen voller russischer Ärzte, mit Psychologinnen, IT-Spezialisten, Wissenschaftlerinnen. Sie werden anderswo schnell Fuß fassen, oder nicht?
Das Problem ist nur: Sie haben sich nicht vorbereitet. Die Menschen weichen sehr schnell aus, man könnte von Schockmobilität sprechen. Da sie ihre Entscheidung innerhalb weniger Tage treffen, gehen sie erst einmal in Länder, in die sie einfach einreisen können: Georgien zum Beispiel, Armenien, Usbekistan, Kasachstan. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in diesen Ländern eine Erwerbsarbeit finden, die ihren Qualifikationen entspricht, ist aber gering – es sind ja sonst eben die klassischen Abwanderungsländer nach Russland. Was machen sie dann? Kehren sie doch zurück – oder versuchen sie, weiterzuziehen? Darauf wird es ankommen.

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Einzelne Betroffene fordern bereits, die EU und die USA sollten ihre Grenzen für bestimmte Fachkräfte aus Russland öffnen. Braucht es ein besonderes Einwanderungsprogramm für Russinnen und Russen – und könnte es helfen, Putins Regierung zu schwächen?
Besondere Programme sind eher notwendig für Menschen, die unmittelbar in ihrer Existenz bedroht sind, beispielsweise, weil sie sich politisch gegen die Regierung engagiert haben. Für ungefährdete russische Migrantinnen und Migranten bestehen mit dem deutschen Fachkräfteeinwanderungsgesetz, der Blauen Karte der EU, Stipendien des DAAD, des Deutschen Akademischen Austauschdiensts, und anderen Programmen sehr gute Möglichkeiten, auf den deutschen Arbeitsmarkt und in unser Wissenschaftssystem zu kommen. Sehr große Bedeutung werden in diesem Zusammenhang eher die Netzwerke russischsprachiger Menschen haben.

Was heißt das konkret?
Migration wird durch Migration gefördert. Wenn es darum geht, dass Hochqualifizierte im Ausland unterkommen wollen, werden die russischen Netzwerke in den USA, in Deutschland, in Israel ihren Beitrag leisten. Menschen, die schon vor Ort sind, können helfen, einen Job zu finden und eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Das kann die fehlende Vorbereitung in Teilen ausgleichen. Dann kehren die Menschen dauerhaft nicht nach Russland zurück.

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