Am meisten erfährt Karsten Eichmann im Aufzug. Wenn er dort Angestellte trifft, nutzt der Vorstandsvorsitzende der Gothaer Versicherungen sofort die Chance und fragt, wie es ihnen geht oder wie es in deren Abteilung gerade läuft. Mal erfährt er von neuen Produkten, mal von Problemen. Und manchmal handelt er danach direkt.
Gleich zwei Angestellte offenbarten dem Konzernchef neulich, dass sie verunsichert seien – wegen der Neuausrichtung der Versicherung, inklusive neuer Führungskräfte und neuer Aufgabenbereiche. Eichmann griff das Thema daraufhin bei Mitarbeiterversammlungen auf und ließ Informationen im Intranet veröffentlichen. „So konnte ich nicht nur die beiden beruhigen“, sagt Eichmann, „sondern auch alle anderen.“
Der Versicherungsmanager hat es sich zur Angewohnheit gemacht hat, seinen Beschäftigten aufmerksam zuzuhören. Damit aber ist er immer noch die Ausnahme. Was viele Beschäftigte vermuten, offenbart eine Exklusivumfrage von The Alternative Board, kurz TAB, einem kommerziellen Zusammenschluss von 600 mittelständischen Unternehmern mit bis zu 50 Millionen Euro Umsatz. 91 Prozent der Befragten glauben demnach, dass sie bei grundlegenden Entscheidungen ihre Mitarbeiter anhören und deren Einschätzungen und Wünsche berücksichtigen sollten.
Vier Tipps fürs Zuhören
Unser Gehirn kann Wörter schneller aufnehmen, als wir sie aussprechen. Wenn wir jemandem zuhören, ist es also unterfordert – deshalb schweifen unsere Gedanken beim Zuhören regelmäßig ab.
Beseitigen Sie daher sämtliche Störquellen (Tür zu, E-Mail-Postfach aus, Smartphone mit dem Bildschirm nach unten auf den Tisch legen) und konzentrieren Sie sich ganz auf Ihren Gesprächspartner. Falls Sie sich dennoch dabei ertappen, abwesend zu sein, bitten Sie höflich um Entschuldigung. Das ist immer noch besser, als im Nachhinein durch eine redundante Frage seine Schlafmützigkeit verraten zu müssen.
Manchen Menschen fällt es schwer, Gefühle zu offenbaren, vor allem negative wie Frust, Wut und Resignation. In diesem Fall sollten vor allem Vorgesetzte ihre Mitarbeiter durch offene Fragen (Wie, was, wann) zum Reden ermutigen.
Achten Sie auch auf Worthülsen wie „eigentlich“, „theoretisch“ oder „prinzipiell“ – solche Floskeln dienen meist der Vertuschung. Auch hier gilt: durch Fragen vorsichtig nachhaken.
Wer sein Gegenüber unterbricht, bremst es aus – und bringt sich selbst um die Gelegenheit, dass sich der andere ihm wirklich öffnet. Dasselbe gilt für Menschen, die gleich ungefragt mit Ratschlägen und Belehrungen aufwarten. Vor einer Antwort auf das Gesagte am besten eine kurze Pause machen und im Kopf bis drei zählen. Dann kann der Gefragte seine Aussage notfalls noch ergänzen.
Gute Zuhörer fassen das Gesagte noch mal zusammen mit Sätzen wie „Wenn ich Sie richtig verstehe ...“. Denn so geben sie dem anderen die Möglichkeit, das Gesagte zu korrigieren. Und Führungskräfte können so feststellen, ob sie und ihr Mitarbeiter dasselbe denken.
Absolut tabu: Von sich selbst reden („Das kenne ich gut ...“), vorschnell Ratschläge erteilen („Ich an Ihrer Stelle würde ...“) und das Gesagte relativieren („Das wird schon wieder“) – damit nehmen Sie den Betroffenen nicht ernst genug.
Tatsächlich nehmen sich die Unternehmenslenker aber kaum Zeit dafür. Jeder zweite Befragte wendet maximal eine gute Stunde pro Woche auf, um sich mit seinen Angestellten über Projekte sowie deren Anliegen und Bedürfnisse persönlich auszutauschen, bei jedem vierten sind es nicht mal 30 Minuten.
Dabei ist aufmerksames Zuhören die Grundvoraussetzung für jede Zusammenarbeit. Wer sich bei der Arbeit ignoriert fühlt, tritt langfristig die Reise ins geistige Exil an. Manager, die nicht richtig hinhören, treffen womöglich falsche Entscheidungen; Mitarbeiter, die Anweisungen falsch verstehen, begehen kostspielige Fehler. Kollegen reden aneinander vorbei und gehen sich auf die Nerven. Kunden fühlen sich nicht ernst genommen und verabschieden sich.
All das resultiert in Fehlurteilen, in Unzufriedenheit und Demotivation. 54 Prozent der TAB-Unternehmer gaben zu, bereits Fehlentscheidungen getroffen und Verluste erlitten zu haben, weil sie ihren Mitarbeitern nicht zugehört hatten.
Dem Gegenüber zuzuhören ist nicht nur ein Ausdruck von Respekt, Höflichkeit und Wertschätzung – sondern entscheidet gleichzeitig auch über die Karriere von Personen und das Schicksal von Unternehmen.
Ein guter Zuhörer kann mehr als schweigen und lauschen. Vielmehr geht es um eine Fähigkeit, die der US-Psychologe Carl Rogers aktives Zuhören nannte (siehe Tipps Seite 90). Und die beinhaltet, fokussiert zu bleiben, das Gegenüber aufmerksam zu beobachten und auf gut gemeinte Ratschläge und voreilige Interpretationen zu verzichten.
Das fällt Menschen heute so schwer wie nie – weil Zuhören ein schlechtes Image hat. Kinder sollen auf ihre Eltern hören, Schüler auf ihre Lehrer, Studenten auf ihre Professoren, Angestellte auf ihren Vorgesetzten. Der Untergebene empfängt, der Mächtige sendet – der Chef hat eben wortwörtlich „das Sagen“.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Aufmerksamkeitsspanne im Zeitalter der ständigen Reizüberflutung gesunken ist. Weil überall Smartphones blinken und vibrieren, E-Mails und WhatsApp-Nachrichten eintreffen, sprich: weil immer mehr Informationen für immer weniger Aufnahmefähigkeit sorgen.
Eine ungesunde Mischung aus Lärm, Informationen und Technikwahn beeinflusst das Hörvermögen. Da Menschen weniger von Angesicht zu Angesicht miteinander reden, sinkt ihre Fähigkeit, aufeinander einzugehen.
Selbst bei Professionen, in denen Zuhören essenziell ist, klappt es kaum mehr: Der ökonomische Druck auf Ärzte beispielsweise sorgt in Kliniken dafür, dass viele Mediziner ihre Patienten schon nach kurzer Zeit unterbrechen.
Das Robert Koch-Institut fand im Jahr 2006 heraus, dass Patienten in deutschen Hausarztpraxen im Schnitt 103 Sekunden Zeit haben, um ihre Beschwerden zu erläutern – unabhängig davon, ob sie neue oder Stammpatienten sind. In keinem anderen Land Europas sind die Gespräche mit dem Arzt kürzer. Dabei könnte ein kleiner Schritt viel bewegen. Studien zeigen zum Beispiel, dass Patienten ihre Medizin disziplinierter nehmen, wenn sie sich von ihrem Arzt verstanden fühlen. Schweigen ist manchmal eben doch Gold.