
Mindestens 5600 Fischer beklagen den Verlust ihrer Existenz, die Aktionäre von ThyssenKrupp Milliardenverluste. Und knapp jeder fünfte der rund 180.000 ThyssenKrupp-Mitarbeiter weltweit wird an die Konkurrenz verkauft: Das ist die dramatische Bilanz einer guten Idee, die ThyssenKrupps Rolle als globaler Stahlgigant zementieren sollte, die aber in einer langen Kette von Pleiten, Pech und Pannen im Sumpf Brasiliens endete – der Bau eines Stahlwerks in einem ehemaligen Mangroven- und Fischlaichgebiet an der Küste.
Errichtet auf einem Naturschutzgebiet auf schwammigem Grund, läuft das Stahlwerk TKCSA vor den Toren Rio de Janeiros bis heute nicht auf vollen Touren. Daran änderten auch Tausende von Stahlpfählen nichts, die in den morastigen Grund eingeschlagen wurden, um das schiefe Fundament zu reparieren.
Bluff oder Befreiungsschlag?
Der Milliardenflop machte den Komplett-Umbau der deutschen Industrielegende ThyssenKrupp notwendig. Deshalb ließ der Chefaufseher Gerhard Cromme erst von der Kanzlei Linklaters und zuletzt im vergangenen Dezember erneut von der Top-Kanzlei Hengeler Mueller per Gutachten prüfen, ob der langjährige Vorstandsvorsitzende Ekkehard Schulz angesichts der schwer nachvollziehbaren und ewig andauernden Fehlplanungen gegen „seine Sorgfaltspflichten als ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter“ verstoßen haben könnte. Medienwirksam gab Cromme den harten Hund, der für kompromisslose Aufklärung sorgt.
Dass versucht wird, Vorstände und Aufsichtsräte in die Pflicht zu nehmen, statt sich bei Rechtsverstößen gegenseitig zu schonen, dass Aufsichtsräte durch möglichst prominente Anwaltskanzleien checken lassen, ob ihre Vorstände oder auch sie selbst gegen Rechtspflichten verstoßen haben, statt Verantwortung ungestraft nach unten zu delegieren, ist sicherlich zu begrüßen.
Einerseits.
Doch bei genauem Hinsehen stellt sich rasch die Frage: Ist der scheinbar große, endgültige Befreiungsschlag aus den Fängen der Deutschland AG nichts als ein großer Bluff, um von der eigenen Verantwortung abzulenken?
Bei welchen Entscheidungen Vorstände und Aufsichtsräte nicht für Unternehmensschäden haften müssen
Vorstände und Aufsichtsräte müssen nicht für Unternehmensschäden haften, wenn eine unternehmerische Entscheidung vorliegt, die durch Prognosen und damit durch nicht justiziable Einschätzungen gekennzeichnet ist.
Vorstände und Aufsichtsräte müssen nicht für Unternehmensschäden haften, wenn sie auf der Grundlage angemessener Information getroffen wurden. Eine rein formale Absicherung durch Einholung externen Rats reicht nicht.
Vorstände und Aufsichtsräte müssen nicht für Unternehmensschäden haften, wenn sie die Ertragskraft des Unternehmens langfristig stärken und dessen Wettbewerbsfähigkeit sichern wollten. Dies trifft nicht zu, wenn mit der Entscheidung in völlig unverantwortlicher Weise Risiken falsch bewertet und eingegangen werden.
Vorstände und Aufsichtsräte müssen nicht für Unternehmensschäden haften, wenn sie mit der Entscheidung keine eigenen Interessen verfolgt haben.
Vorstände und Aufsichtsräte müssen nicht für Unternehmensschäden haften, wenn der Vorstand in gutem Glauben gehandelt hat – also die Informationsgrundlage nicht evident unzureichend und die Entscheidung nicht objektiv vollkommen unvernünftig und damit offensichtlich ungeeignet war, um das Wohl der Gesellschaft zu fördern.
Keine vier Wochen nachdem Cromme mit großem Aplomb die juristische Aufarbeitung der Brasilien-Pleite angekündigt hatte, erteilte Deutschlands mächtigster Konzernkontrolleur auf der Hauptversammlung von ThyssenKrupp Absolution auf höchster Ebene. Sprach nicht nur Ekkehard Schulz, sondern auch sich selbst und allen übrigen Vorstands- und Aufsichtsratskollegen des Stahlriesen von jedweder Verantwortung für das Debakel im Mangrovensumpf frei.
Kostenpunkt der Gutachten: 200.000 Euro, zulasten des Konzerns. Wohl einziger Zweck der teuren Übung: sich wie einst Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Morast ziehen. Denn nur die juristisch attestierte weiße Weste verhinderte, dass die Manager womöglich in die Haftungsfalle getappt wären. Und nicht nur die Karriere, sondern auch das eigene Vermögen in Gefahr gebracht hätten.
Persilschein-Aussteller für Manager
„Anwaltskanzleien werden immer mehr zu Persilschein-Ausstellern für Manager“, sagt Manuel Theisen, BWL-Professor an der Uni München und Herausgeber der Zeitschrift „Der Aufsichtsrat“. Sein Vorwurf: Hoch bezahlte Konzernlenker sicherten mittlerweile unternehmerische Entscheidungen juristisch ab und bestellten auch oft im Nachhinein noch horrend teure Gutachten. Dasselbe gelte für deren Kontrolleure, die Aufsichtsräte, moniert der Corporate-Governance-Experte. Die Gutachten, die ThyssenKrupp-Aufsichtsratschef Cromme in Auftrag gegeben hätte, erweckten den Anschein, dass Manager und Aufsichtsräte wie im Monopoly-Spiel nur eine Befreiungskarte zu ihrer Entlastung ziehen müssten, auf der steht: „Gehen Sie nicht in das Gefängnis...“, und schon wären sie jegliche Verantwortung los.
„Doch Aufsichtsräte tragen höchstpersönlich die Verantwortung für die Kontrolle der Vorstandsarbeit. Der Aufsichtsrat ist die Kontrollinstanz – nicht externe Juristen, die ohnehin das schreiben, was ihnen ihr Auftraggeber an Material zur Verfügung stellt“, sagt Theisen und warnt vor einer „gefährlichen Gutachteritis“.