Verwundbarkeit Trauen Sie sich, Schwäche zu zeigen

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Verwundbarkeit nicht stigmatisieren

Schwäche-Expertin Brown fordert deshalb, Verwundbarkeit nicht länger zu stigmatisieren. „Der Glaube an die Perfektion ist nichts weiter als ein tonnenschweres Schutzschild“, erklärt die Wissenschaftlerin. „Es bewahrt uns davor, so gesehen zu werden, wie wir wirklich sind.“ Wer hingegen das Schutzschild ablegt, gewinnt.

Als etwa der Ehemann von Facebook-COO Sheryl Sandberg unerwartet starb, teilte sie ihre Gefühle mit der Weltöffentlichkeit. Diese emotionale Nabelshow machte sie zur Ikone. Als der milliardenschweren Quandt-Erbin Susanne Klatten der windige Gigolo Helg Sgarbi den Boden unter den Füßen wegzureißen drohte, indem er sie mit einer Affäre erpresste, trat sie die Flucht nach vorne an und profilierte sich plötzlich als zielstrebige Unternehmerin. Als die gilt sie heute, nicht als betrogenes Dummerchen.

Der ehemalige Unternehmer Philippe Pozzo di Borgo wiederum, dessen Leben in dem Film „Ziemlich beste Freunde“ verfilmt wurde, brach sich beim Gleitschirmfliegen das Genick und ist seither querschnittsgelähmt. Er hat ein Buch über seinen tiefen Fall geschrieben, sagt heute, er würde viel achtsamer leben und diagnostizierte gegenüber dem „Manager Magazin“ „Allmachtsfantasien“ bei den allermeisten Konzernchefs.

Die "harten Hunde" sind meistens schwach

Großes erreicht zu haben nähre ein Gefühl der Unsterblichkeit, so der ehemalige Topmanager. Dazu passen auch die kriegerischen Worte, mit denen der Goldman-Sachs-CEO Lloyd Blankfein seine Krebserkrankung beschreibt. Er verglich seine Chemotherapie in einem Fernsehinterview mit dem Einsatz von Napalm. „Leute, die wie harte Hunde wirken wollen, sind in Wirklichkeit oft eher schwach“, weiß Psychiater Lütz. Außerdem wirkt es oft gekünstelt. Damit verspielen Manager aber eine große Chance. Denn Authentizität führt zu mehr Glaubwürdigkeit und damit zu einer höheren Identifikation der Mitarbeiter mit ihren Führungskräften und dem Unternehmen. Deshalb ermutigt Christine Arlt-Palmer, Partnerin der Personalberatung Board Consultants Manager, dazu, auch zu schwierigen Lebenssituationen offen zu stehen.

In Düsseldorf bittet ein neues Format gescheiterte Gründer auf die Bühne. Das ist nicht nur unterhaltsam, sondern auch wichtig für eine Start Up-Szene, die die Möglichkeit zu Scheitern meistens totschweigt.
von Timo Stukenberg

Wer lernen will, zu sich selbst zu stehen, sollte stattdessen lieber mal ein Unternehmen gründen, rät Sozialwissenschaftlerin Brown. Warum? Ganz einfach: Aus einer Passion heraus den Schritt in die Ungewissheit zu wagen, Leute zu begeistern ohne eine Ahnung zu haben, was die Zukunft bringt, erfordert genau das, was sie einen gesunden Umgang mit Schwäche nennt: rausgehen in die Arena. Hinfallen. Blutverschmiert aufstehen. Weitermachen. Lernen. „Im besten Fall wartet am Ende des Leidensweges der Triumph der großen Leistung“, hat US-Präsident Theodore Roosevelt einmal gesagt. „Im schlechtesten steht die Erkenntnis, beim Scheitern zumindest etwas Großes gewagt zu haben.“

Max Wittrock, einer der drei Gründer des bekannten Start-ups MyMuesli, weiß, was Risiko bedeutet. Er startete sein Unternehmen vor zehn Jahren mit zwei Freunden, maximaler Passion und minimaler Sicherheit. Noch als Student entwickelten die drei ihre Vision vom individualisierten Digitalmüsli. Im Passauer Kämmerlein mixten und horteten sie Nüsse und getrocknete Cranberries, Amaranth und Honigflocken bis sich die Regalbretter bogen. Als Gründer, sagt Wittrock, hätten sie vieles falsch gemacht, aber hoffentlich noch mehr richtig. Inzwischen führen die drei einen soliden Mittelständler, der an drei Standorten insgesamt mehr als 800 Mitarbeiter beschäftigt und 58 eigene Läden betreibt.

Wittrock hat auf dem gemeinsamen Weg die Schwäche in ihren sämtlichen Facetten kennengelernt. Er und seine Mitgründer haben nie einen Hehl daraus gemacht, zum ersten Mal Unternehmer dieser Größenordnung zu sein. Er findet es normal, dass Fehler passieren. „Man muss es dann halt entsprechend lösen“, sagt der Gründer. Viel wichtiger ist in seinen Augen ohnehin, dass es eine starke Vision gibt, einen Fixstern.

„Gründen hat viel mit Wünschen und Träumen zu tun“, erklärt Wittrock. Da alle die Reise gemeinsam erlebten, sei es umso wichtiger, sich offen und verwundbar zu geben. „Sonst wirkt es wie aufgestülpt“, sagt der junge Unternehmenschef. „Man will ja aber, dass die Leute verstehen, worum es einem geht. Dadurch menschelt es automatisch mehr.“ Am Anfang sei das einfacher gewesen, alle mitzunehmen. Doch mit mehr Standorten und noch mehr Mitarbeitern „haben wir da sicher noch eine enorme Bringschuld“.

Wer seine Ängste ignoriert, wird von ihnen regiert

Auch Brené Brown hat in gewisser Weise gegründet. Sie lebt heute ein neues Leben, sowohl beruflich als auch privat. Ihren Zusammenbruch nennt sie rückblickend „ihr spirituelles Erwachen“. Sie vertraut sich jetzt öfter Freunden an. Sie steht zu den Dingen, die ihr misslingen. Sie lobt sich für Dinge, die ihr gelingen.

Dürfte sie irgendwo auf der Welt eine Reklametafel mit einer Botschaft platzieren, würde sie sie in Washington aufstellen und darauf schreiben „Shut up and listen“, erzählte Brown vor ein paar Monaten in einem Podcast. „Halt die Klappe und höre einfach mal zu.“ Denn was geschieht, wenn die Scham die Oberhand gewinnt, zeigt „das, was da gerade in den Vereinigten Staaten passiert“, so Brown. „Wenn wir unsere Ängste und Verwundbarkeit ignorieren, regiert sie irgendwann.“ Das sei Gift für jedes System. Klingt logisch – und aktueller denn je.

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