Von Startups lernen So werden Mittelständler „Digital-Checker“

Berlin Coworking Quelle: Getty Images

Auf der Suche nach Inspiration verschlägt es zwei norddeutsche Mittelständler 2016 nach Berlin. In ihrem „Digital Tour Book“ berichten sie vom Kulturschock und erklären, warum man nicht alles wie Google machen muss.

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Wer als Mittelständler „die Digitalisierung“ anpacken will, findet sich schneller als er denkt auf einer Safari wieder. Auf einer Safari durch Digitalien, wie Christopher Rheidt und Daniel Wagenführer es nennen. Digitalien ist der Teil Deutschlands, den der „Economist“ wohl auch mit seiner jüngsten Titelstory „Cool Germany“ meinte. Ob Norderstedt gemeint war, ist jedenfalls nicht überliefert. Dort ist der Sitz des Traditionsunternehmens, das Geschäftsführer Rheidt und sein General Manager Wagenführer fit für die Zukunft machen sollten.

In einer Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung machten sie sich Anfang 2016 in Kapuzenpullis – Leitfrage bei der Wahl des Outfits: „Was macht uns zu Digital-Checkern?“ – und mit der erweiterten Führungsmannschaft im Schlepptau auf den Weg nach Berlin, um von der legendären Startup-Szene dort zu lernen.

Spezialisierte Anbieter haben es zu ihrem Geschäftsmodell gemacht, Mittelständler wie Touristen durch die Berliner Innovation Labs zu karren. Sie können Vorträge buchen, mit Startup-Vertretern sprechen und Berater konsultieren – kurz: sie können sich ein ganzes Wochenende lang anhören, „wie Google das macht“ und warum sie in wenigen Jahren nicht mehr existieren werden, wenn sie nicht ebenso handeln. Eine schockierende Erkenntnis kann das sein, wenn ein Unternehmenslenker darauf nicht vorbereitet ist.

Die Reise durch Digitalien sei, als würde man über den großen Marktplatz in Marrakesch gehen, schreiben Rheidt und Wagenführer in ihrem Reisebericht „Digital Tour Book“, mit dem sie anderen Mittelständlern die nötigen langen Lernprozesse erleichtern wollen. „Dort begegnen Sie einem Lederverkäufer, einem Schmuckhändler oder einem Schlangenbeschwörer, und alle wollen Sie auf Ihre Seite locken, wollen Ihre Aufmerksamkeit, und ja, alle wollen auch Ihr Geld. Es bedarf einer großen Festigkeit, das alles einerseits aufzunehmen und zu genießen, sich aber andererseits nicht zu verlieren.“

Die Warnungen sind der eine Teil der Geschichte. Der andere: Rheidt und Wagenführer haben Festigkeit besessen, sich nicht bequatschen lassen und aus der Inspiration vom Rosenthaler Platz in Berlin Mitte die richtigen Schlüsse für ihr Unternehmen, den ehemals reinen Bürogerätehersteller Triumph-Adler gezogen. Heute sehen sie die wichtigsten Weichen gestellt, haben das Portfolio erweitert und sind keine Fremden mehr in Digitalien.

Christopher Rheidt und Daniel Wagenführer Quelle: Dominik Butzmann

„Ich kann mich noch gut erinnern, als ich zum ersten Mal am Rosenthaler Platz aus dem Taxi stieg. Es ist ein Gefühl, wie wenn man das erste Mal nach Australien kommt und den roten Himmel sieht. Man spürt, da ist ein anderes Leben drin – ganz viele junge Menschen, es wuselt, man hat das Gefühl, hier passiert etwas. Man sieht, das ist nicht Freizeit, sondern Business, aber es ist anders“ beschreibt Daniel Wagenführer die erste Wirkung der anderen Umgebung auf die Mittelständler. Die Gefahr, von den Insidern dieser geheimnisvollen Szene wie rückständige Provinzler behandelt zu werden, ist groß.

Am Anfang überlagert die Wirkung der Droge Berlin jedoch alles: „Man ist wahnsinnig inspiriert, hat ganz viele verwegene Ideen, von denen man sich vorher nicht vorstellen konnte, dass man sie haben würde“, sagt Wagenführer. Ebenso ging es den Kollegen aus der Führungsmannschaft, die zum Teil erst einmal überhaupt keine Lust auf den Trip hatten. „Es war wirklich mehr als eine Euphoriewelle. Man kann sich gar nicht vorstellen, was für Gespräche in den Wochen danach stattgefunden haben, was für Ideen die Führungskräfte plötzlich hatten“, erinnert er sich.

Aber was genau hat das junge Berlin, was Mittelständler aus der Provinz so fasziniert? Christopher Rheidt schwärmt von einer Offenheit für neue Themen, die sich im Team nachhaltig etabliert habe. „Vorher hatten wir vor allem darüber gelesen, jetzt waren wir mittendrin. Wir bekamen ein anderes Verständnis für eine neue Generation, die uns interessante Einblicke gewährt. Deren Form des Arbeitens, die wir so nicht unbedingt kannten, ist da sehr präsent. Diese Gemengelage löst etwas aus“, beschreibt der Vorstandsvorsitzende. Für ihn war entscheidend, trotz aller Reize das richtige für sein Unternehmen herauszufiltern. „Wir machen das nicht aus Privatvergnügen. Wir wollten rausfinden, was steckt hinter diesem ganzen Hype und was bringt das uns – wir wollen ja Geschäfte machen.“

Wo man schnell per Du ist, wird es schnell persönlich

Geschäfte machen wollen aber auch andere. So fanden sich die beiden Reisenden bei einem ihrer ersten Berlinbesuche unversehens in einem Thai-Restaurant wieder, vor sich einen schnittigen jungen Berater, „Size-Zero-Typ“, der ihnen vorschlug, erst einmal für 300.000 Euro ein Digitalprojekt anzuschieben, als Testlauf quasi. Der Lerneffekt dabei: Man kann in Digitalien ohne Ende Geld verballern. Den Autoren ist deshalb wichtig, Bodenständigkeit nicht mit Rückständigkeit gleichzusetzen. „Bodenständigkeit heißt In-sich-Gehen. Brauche ich das wirklich? Sitzt das Geld bei uns so locker? Ertrage ich es, dass mich mein Gesprächspartner aus Digitalien für uncool und provinziell hält? Will ich mich von ein paar arroganten Hipstern über den Tisch ziehen lassen? Sollen wir uns als gestandene Manager wirklich von ein paar Digitalberatern Angst einjagen lassen, die nie ein Unternehmen unserer Größe geführt und nie Verantwortung getragen haben?“

Zu den Kulturschocks für ebensolche gestandenen Manager gehört diese Mischung aus horrenden Summen, die scheinbar für normal gehalten werden, und einem Umgang, den sie womöglich nicht einmal aus ihrem privaten Umfeld kennen. Da wird man sofort geduzt, kennt von kaum jemandem den Nachnamen, wird von wildfremden Businessleuten umarmt. Nur um mit totaler Verachtung gestraft zu werden, sobald man die Angebote nicht annimmt. „Wenn du ihren Geschichten nicht traust, … lassen sie dich gnadenlos spüren, wie wenig sie von dir halten. Und da ihr mit dem Du ohnehin schon auf einer sehr persönlichen Ebene seid, wird es auch sehr schnell persönlich.“

Festhalten wollen Rheidt und Wagenführer aber auch: Die Reise lohnt sich trotz mancher schlechter Erfahrung. „Was man oft hört, sind die ganz großen Namen, an denen man sich zu orientieren habe. Um dem Ganzen Nachdruck zu verleihen, werden Begriffe ins Englische übersetzt. Und schon sieht es so aus, als wäre der Gegenüber im Silicon Valley großgeworden. Das ist schon eine große Kunst, was wir da zum Teil präsentiert bekommen haben“, berichtet Wagenführer. „Es gibt aber auch die andere Seite: ganz viele Leute, die einem auch helfen können.“ Es kann eben nur sein, dass man diese Leute erst beim 25. Mittagessen trifft.

Dann ist wichtig, verstanden zu haben, was Startups gut können und wo ihnen etablierte Unternehmen voraus sind. „Startups sind wahnsinnig agil, wahnsinnig schnell, sehr kreativ und sehr findungsreich, was neue Themen und neue Geschäftsfelder angeht. Im weitesten Sinne sind die gut für eine Produktentwicklung“, meint Christopher Rheidt. Ihnen fehlten aber Strukturen für Vertrieb und Service, um dem Kunden nachher eine vernünftige Qualität zur Verfügung zu stellen. „Und das ist genau das, was wir Startups in Partnerschaften anbieten. Das ergänzt sich dann sehr gut.“

Wie bei jeder Reise entfalten die Kulturschocks ihre interessantesten Effekte dann, wenn man wieder daheim ist. So geht es jetzt auch in Norderstedt lockerer zu – aber anders als in Berlin. Von Startups lernen heißt eben nicht blind nachahmen. So haben Rheidt und Wagenführer beschlossen, die Fehlerkultur in ihrem Unternehmen zu überprüfen. „Das sind so Kleinigkeiten. Jetzt kommt es vor, dass wir auf Mitarbeiterversammlungen eine gute Flasche Rotwein an denjenigen vergeben, der einen Fehler gemacht hat und offen damit umgegangen ist, sodass wir als Unternehmen daraus lernen konnten“, sagt Rheidt.

Quelle: Murmann Verlag

Von loungigen Ecken oder Tischtennisplatten halten die Norddeutschen immer noch nichts. „Wir haben in manchen Coworking Spaces Dinge gesehen, die wahnsinnig viel Geld gekostet haben, aber gar nicht bespielt und gar nicht genutzt wurden. So etwas können wir uns schlichtweg nicht leisten“, sagt Rheidt. Umgehauen habe ihn dafür, welche große Resonanz ein einfacher Ideenwettbewerb bei den Mitarbeitern auslösen kann. Der erste Preis ist übrigens eine Startup-Tour nach Berlin.

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