Ist das Erstaunen nicht auch deshalb so groß, weil man die sozialen Netzwerke lange für Instrumente der Aufklärung hielt?
Stauss: Die Hoffnung, dass sich die Demokratie mit den sozialen Medien endgültig Bahn bricht, war naiv. Ich war naiv. Die Vorstellung, dass allein durch den Zugang zu mehr Informationen ein klügerer Wahlbürger im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte an die Urne tritt, um dort eine rationale Entscheidung zu treffen – träumt weiter.
Ludwig: Es ist nicht alles schlecht. Wir versuchen seit einiger Zeit gezielt, AfD-Anhänger auf Facebook zu erreichen und für uns zu gewinnen. Aber die Streuverluste sind leider immer noch ziemlich hoch.
Stauss: Wir arbeiten mit einem permanenten Mangel an Ressourcen. In den USA hatte zuletzt jeder Kandidat eine Milliarde Dollar zur Verfügung. Und wir bei einer Bundestagswahl vielleicht 25 Millionen.
Ludwig: Sie bei einer der Volksparteien vielleicht, wir haben weniger.
Stauss: Dafür haben wir auch einen anderen Druck, was die Zahl an Wählern angeht, die wir erreichen sollten. Mit Facebook und Co. kommen Sie an sehr viele Menschen heran, aber der Grad der Mobilisierung ist in der Tat eher durchschnittlich.
Klingt, als sei das gute alte Großplakat immer noch eine ganz gute Idee.
Ludwig: Es ist in Sachen Kosten-Nutzen-Verhältnis jedenfalls nicht zu verachten.
Woher nehmen Sie die Wählerdaten?
Ludwig: Wir kaufen jedenfalls keine. Nicht nur wegen der strengen Datenschutzgesetze. Auch hier gilt: Geld ist knapp.
Riegel: Ich wüsste auch nicht, von welchem Geld die Grünen sich das leisten könnten.
Herr Stauss, kaufen Sie Daten für die SPD?
Stauss: Wir als Agentur definitiv nicht. Natürlich haben wir schon immer versucht, möglichst nah an Zielgruppen heranzukommen. Aber das hat weniger mit Datenkauf zu tun. Auch bei der üblichen Kampagne stellen wir ja keine Plakate in Regionen auf, wo der letzte Sozialdemokrat vor 40 Jahren gesichtet wurde.
Riegel: Ich muss keine Daten kaufen, um datengetriebenen Wahlkampf zu machen. Beispiel Baden-Württemberg: Dort gibt es 70 Wahlkreise. Wir haben die Ergebnisse vorangegangener Wahlen alle bis auf die Postleitzahl runtergebrochen. Dort, wo wir so weit zurücklagen, dass wir keine Gewinnchance hatten, haben wir erst gar nicht geworben. Woanders dafür umso intensiver.
Reicht heute eine einzige Leitbotschaft, um einen ganzen Wahlkampf zu bestreiten?
Riegel: Ja und nein. Meine Dachbotschaft muss so stark sein, dass ich auf ihrer Grundlage 40 Unterbotschaften für meine Einzelzielgruppen ausarbeiten kann.
Wann weiß man, dass man die ultimative Botschaft gefunden hat?
Ludwig: Wir sind in das Jahr 2017 gestartet und dachten, wir stellen uns auf Sigmar Gabriel bei der SPD ein. Da hatten wir als Hintergrundstimmung mit großer Agonie im Wahlkampf gerechnet. Das hat sich mit der Schulz-Nominierung erledigt. Man muss lange offen und flexibel bleiben.
Stauss: Wahlkampf bedeutet Strategie unter ständigem Dauerfeuer. Sie brauchen daher früh ein belastbares Grundgerüst. Ich bin ein glühender Anhänger von Fokusgruppen, Interviews mit 15, 20 Menschen, schon lange bevor der Wahlkampf beginnt. Da kriege ich noch eine unverfälschte Meinung, auf deren Grundlage ich Fühlung aufnehmen kann.
Fünf Krisen, die die EU schon überlebt hat
Als Großbritannien 1963 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der sechs Gründerstaaten beitreten will, legt Frankreichs Präsident Charles de Gaulle sein Veto ein. Großbritannien sei weder politisch noch wirtschaftlich reif, argumentiert er. Erst sein Nachfolger Georges Pompidou bringt die Wende. Der Beitritt der Briten gelingt 1973 - zehn Jahre nach dem ersten Antrag.
Quelle: dpa
Von Mitte der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre schwächelt die Gemeinschaft wirtschaftlich und politisch. Von „Eurosklerose“ ist die Rede. Die Konkurrenz aus den USA und Japan macht dem europäischen Markt zu schaffen. Die Mitgliedsländer versuchen, ihre Märkte zu schützen und nationale Interessen durchzusetzen. Die Krise wird überwunden durch neuen Schwung nach den Beitritten von Spanien und Portugal und dem Plan eines gemeinsamen europäischen Binnenmarkts.
Es soll der Startschuss zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sein. Doch die Dänen sagen in einem Referendum Nein zum Vertrag von Maastricht und setzen das politische Europa 1992 unter Schock. Elf Monate vergehen, bis ein Kompromiss mit Sonderrechten ausgehandelt wird, dem die Dänen zustimmen.
Mehrere Mitglieder der vom Luxemburger Jacques Santer geführten EU-Kommission müssen sich einem Misstrauensvotum im Europäischen Parlament wegen möglicher Betrugsaffären stellen. Ein von „fünf Weisen“ erstellter „Bericht über Betrug, Missmanagement und Vetternwirtschaft“ besiegelt kurz darauf das Schicksal der Santer-Kommission. Das gesamte Kollegium tritt im März 1999 zurück.
Mehr Demokratie und Transparenz - darum geht es 2005 in dem mühsam ausgehandelten „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ der damals 25 EU-Staaten. Doch die Franzosen und die Niederländer lehnen die EU-Verfassung bei Volksabstimmungen ab. An ihre Stelle tritt letztlich 2009 der Vertrag von Lissabon, der ähnliche Ziele verfolgt.
Und was hören Sie da gerade so?
Stauss: Was wir im Bund derzeit sehen, bestätigt das, was ich seit Längerem predige: Wenn es ein Angebot gibt, das klare Haltung, proeuropäisches Engagement und Gerechtigkeit mit Feuer unterm Arsch kombiniert, wird es interessant.
Heißt das, es herrscht Wechselstimmung?
Ludwig: Bisher kann ich keine erkennen. Sie müssen als Linke natürlich den Wechsel provozieren wollen. Aber dieses Jahr steht nicht „Change“ zur Wahl, sondern „Choice“ – Auswahl beim Kanzler.
Stauss: Ach, ich halte von diesem ganzen Wechselstimmungsgefasel ohnehin nichts. In Deutschland herrscht doch so gut wie nie Wechselstimmung. Wenn Sie nur danach gehen, was die Bürger wirklich präferieren, landen Sie meist bei einer großen Koalition, mal rot, mal schwarz geführt. In der Geschichte der Bundesrepublik haben meistens die Parteien einen Wechsel herbeigeführt – und nicht die Wähler.