Weiterbildung in Afrika „Heute blicken wir deutlich entspannter auf den Fachkräftemangel“

Hochschulabsolventen können in Afrika nur selten praktische Erfahrung in der IT sammeln. Quelle: Amalitech

Der Mangel an Fachkräften ist für deutsche Unternehmen eines der größten Geschäftsrisiken. Erst recht für Digitaldienstleister. Ein ehemaliger Unternehmensberater bildet die dringend benötigten Informatiker nun in Afrika weiter. Ein Vorbild für andere Firmen?

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Michael Klinkers arbeitete sich etliche Jahre an einer Frage ab, die zahlreiche Digitalunternehmer wie ihn vor Probleme stellt – ohne Erfolg: „Wie können wir noch wachsen, wenn zunehmend weniger Fachkräfte insbesondere im IT-Bereich verfügbar sind?“ Klinkers Unternehmen, die Nexum AG, berät und unterstützt Firmen, etwa wenn diese einen Onlineshop aufbauen oder neu aufsetzen möchten. Und Entwicklerinnen, Softwareingenieure und Datenwissenschaftler sind rar. Mal beauftragte Klinkers Zeitarbeitsfirmen. Die erhöhten aufgrund der hohen Nachfrage jedoch die Preise. Mal holte Klinkers Subdienstleister in sein Unternehmen. Das ging allerdings nur für einzelne Projekte. Dann warb Klinkers in Osteuropa und Indien um Entwicklungspartnerschaften. Ebenfalls mit überschaubarem Erfolg: Die Zeitunterschiede waren zu groß, die Probleme bei der Verständigung ebenso.

Die Antwort fand Klinkers schließlich fast 5200 Kilometer südlich vom Firmensitz im Kölner Stadtteil Ehrenfeld entfernt. In Ghana, genauer in der Stadt Sekondi-Takoradi, arbeiten die Fachkräfte für ihn, die hierzulande jeder haben will: junge ITler von der Universität, bestens ausgebildet. Zumindest in der Theorie. Da die Wirtschaft vor Ort kaum digital ist, dafür umso abhängiger von Landwirtschaft und dem Export von Rohstoffen, fehlt ihnen Praxiserfahrung. Die erhalten sie bei der gemeinnützigen Firma Amalitech: Das Unternehmen – ebenfalls mit Sitz in Köln und Standorten in Afrika – bildet die jungen Menschen weiter und stellt sie bei lokalen Tochtergesellschaften an. Fast 50 von ihnen arbeiten gemeinsam mit den Mitarbeitern der Nexum AG in Kundenprojekten und „die Kollegen“ nehmen Firmenchef Klinkers eine Sorge: „Heute blicken wir deutlich entspannter auf den Fachkräftemangel im IT-Bereich“, sagt er. Nexum kann große Projekte annehmen, die andere Anbieter ausschlagen müssen, weil Personal fehlt.

Für das Gros der hiesigen Unternehmer ist der Mangel an Fachkräften nämlich eines der größten Geschäftsrisiken überhaupt. Fast zwei Millionen Stellen waren im vierten Quartal des vergangenen Jahres unbesetzt, zeigen Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Ein neues Allzeithoch. „Die große Mehrheit der offenen Stellen ist sofort zu besetzen und der betriebliche Konkurrenzdruck um passendes Personal vielfach hoch“, sagt Alexander Kubis, Arbeitsmarktforscher am IAB. Und gerade in der IT fehlen besonders viele Fachkräfte: 137.000 waren es im Jahr 2022, zeigen Zahlen des Branchenverbands Bitkom. Und damit mehr als vor der Pandemie.

Unternehmer Klinkers nutzt mit der ungewöhnlichen Zusammenarbeit zwischen Köln und Sekondi-Takoradi ein Potenzial, das etliche Unternehmen noch außer Acht lassen. In einer aktuellen Studie der OECD, an der auch die Bertelsmann-Stiftung mitarbeitete, zeigt sich, dass der Standort Deutschland bei hochqualifizierten Fachkräften aus dem Ausland an Attraktivität verliert. Im Vergleich zur ersten Auflage der Untersuchung im Jahr 2019 ist Deutschland von Platz 12 auf Platz 15 zurückgefallen. Die „Zurückhaltung der Unternehmen bei der Anwerbung im Ausland“ zeige, wie groß der Handlungsbedarf in Deutschland ist, sagt Ulrich Kober, Migrationsexperte der Bertelsmann Stiftung.

Dass es bei der Nexum AG schon heute besser läuft, hat Chef Klinkers vor allem einem Mann zu verdanken: Martin Hecker, Gründer der Amalitech gGmbH. 26 Jahre lang arbeitete Hecker bei der Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG) und war für IT-Themen zuständig. Er lebte zehn Jahre in den USA, reiste 2016 mit dem Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus durch Uganda – und befasste sich vor Ort mit der Frage, wie er die Jobperspektiven junger Menschen verbessern könnte. Sein Interesse für den Kontinent wuchs schon deutlich früher: 1985 fuhr er gemeinsam mit einem Studienkollegen in einem VW T2-Bus durch die Sahara bis nach Togo.

Der unbekannte Kontinent

„Wir haben hier in Europa eigentlich überhaupt keine Vorstellung davon, wie groß dieser Kontinent ist – und wie unterschiedlich all diese Länder sind“, sagt Hecker, der die Vorzüge für deutsche Unternehmen kennt: Englisch als Amtssprache, ähnliche Zeitzonen, stabile Infrastruktur, gut ausgebildete, junge ITler. Von den 20 Millionen Hochschulabsolventen in Afrika pro Jahr kommt ein Zehntel aus Fächern der Information- und Kommunikationstechnik, weiß Hecker. „Die Menschen kommen aus den Universitäten und suchen dann nach Jobs auf einem Arbeitsmarkt, der vor Ort kaum Perspektiven bietet.“

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Bald 40 Jahre nach der ersten Reise will Hecker diese Perspektiven selbst bieten. Sein Unternehmen Amalitech sitzt an drei Standorten in Afrika: In Sekondi-Takoradi und Accra in Ghana sowie in Kigali in Ruanda bildet das Unternehmen Hochschulabsolventen weiter und stellt sie bei einer der Tochtergesellschaften in den jeweiligen Ländern ein. Für das Trainingsprogramm, das bis zu neun Monate dauern kann, müssen sich die Fachkräfte bewerben. Wer das Training erfolgreich absolviert, erhält ein Jobangebot und arbeitet später in Projekten von Amalitech-Kunden wie etwa der Nexum AG. 1000 Menschen haben das Training bereits durchlaufen, aktuell nehmen 300 daran teil. Doch nicht alle gehen später zu Amalitech. Einige Unternehmen, sagt Hecker, hätten das Potenzial der Fachkräfte und seines Programms bereits erkannt. Und so würden Unternehmen aus Kanada und Großbritannien die Teilnehmer abwerben, sagt Hecker, den das nach eigener Aussage nicht stört: „Wir wollen in erster Linie Jobs schaffen – das ist das übergeordnete Ziel.“ 260 Menschen arbeiten aktuell für Amalitech.

Mit dem Vorhaben ist der ehemalige Unternehmensberater nicht allein. Der deutsche Softwarekonzern SAP hat im Jahr 2019 gemeinsam mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ein Programm vorgestellt, in dessen Rahmen 600 Hochschulabsolventen in der IT weitergebildet werden sollten. Die Jobs sollten bei Unternehmen vor Ort entstehen.

Attraktive Stundensätze – für deutsche Verhältnisse

Anders als Unternehmen, die auf eigene Faust nach Afrika, Asien oder Südamerika expandieren, um dort Fachkräfte anzuwerben und auszubilden, müssen die Kunden von Amalitech keine Expats nach Ghana entsenden und dort auch keine Büros aufbauen. Sie überweisen bloß Stundensätze für die Arbeit der ITler an Amalitech. Und diese Sätze sind laut Nexum-Chef Klinkers attraktiv: niedriger etwa als in Osteuropa – und doch deutlich über dem durchschnittlichen Einkommen in der Region. Allerdings: Die Kunden erwarten von der Arbeit Nexum hohe Qualität, sagt Firmenchef Klinkers. Und wenn die nicht stimmen würde, so Klinkers, „wäre der Preisvorteil für uns völlig irrelevant“.

Köln-Ehrenfeld ruft Sekondi-Takoradi: Nexum-Mitarbeiterin Sina El Rayes im Gespräch Softwareentwickler Isaac Oppong-Baah im Service Center von Amalitech. Quelle: Amalitech

Bei Nexum funktioniere die Zusammenarbeit über die 5000 Kilometer hinweg gut, sagt Sina El Rayes, bei Nexum für die Mitarbeiterentwicklung verantwortlich. Zumindest nach einer ersten Eingewöhnungsphase. In den Kundenprojekten müsse jeder Verantwortung übernehmen. Das Unternehmen stellt dafür Teams zusammen, abhängig von deren Fähigkeiten – unabhängig von deren Standort. Jeden Tag haben die Teams ein kurzes Meeting, um einander auf den aktuellen Stand zu bringen. „Nach einem Projekt diskutieren wir darüber, was im Team und im Umgang mit Kunden gut oder schlecht funktioniert hat. Das erfordert das Feedback von jedem. Häufig sind gerade die neuen Kollegen bei Amalitech noch sehr schüchtern und müssen erst ,auftauen‘“, sagt El Rayes, die auch eine Erklärung dafür hat: „In der Schule lernten die Kollegen noch Gehorsam. Fragen und Fehler waren nicht gern gesehen. Wir wollen ihnen direkt zu Beginn vermitteln, dass Feedback und Kritik hier ganz dringend erwünscht sind.“

Neben der Arbeit in den Projekten gibt es auch inoffizielle Möglichkeiten zum Austausch. Etwa einen „Culture Coffee“, wie Nexum ein Format nennt, bei dem die Mitarbeiter eine halbe Stunde lang über kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten diskutieren. Das beliebteste Thema: Fußball.

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