Widerworte
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Stöckchenspringen für Anfänger

Sind Sie schon agil oder denken Sie wirklich über Veränderung nach? Eine Kolumne.

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Was hören Sie, wenn jemand von Agilität spricht? Bevor Sie jetzt sagen: „Ist doch klar“ – halten Sie bitte einen Moment inne, schauen Sie aus dem Fenster, atmen Sie tief durch und sagen dann dreimal laut: „Kommt drauf an.“ Denn das kommt der Wahrheit schon näher.

Für viele Menschen bedeutet Agilität so viel wie Agility. Letzteres ist ein beliebter Hundesport, bei dem das Tier möglichst geschickt und wendig vorgegebene Hindernisse überwinden soll. Wenn sich Ihr Hund dabei nicht dumm anstellt, also nicht ständig hinfällt oder kurz vorm Stöckchensprung verweigert, dann gilt er als intelligent, weil anpassungsfähig. Wer mitmacht, ist schlau.

Ähnliches denken sich auch die Leute, wenn sie unter Agilität die vermeintliche Lebensfreude von Senioren verstehen, die nicht mit etwa 60 schon depressiv abhängen, sondern so dynamisch rumhopsen, dass sie jede Werbeagentur für die nächste „Silver Ager“-Kampagne engagieren könnte. Agil und fit ins Alter – auch das ist Anpassung, Herrschaften, wer wüsste das nicht? Die Alten sollen, nein, sie wollen sein wie die Jungen, die die Norm darstellen. Frauen und Männer benehmen sich deshalb auch noch in ihren 50ern und 60ern – und darüber – so, als ob sie die Pubertät gerade erst hinter sich gebracht hätten. Erfahrung wird überbewertet, sagen die, die keinerlei haben. Und die Alten passen sich an, wie die Hündchen, die über die Hindernisse springen, die ihnen ihre Herrchen und Frauchen aufgebaut haben, weil sie das für schlau halten.

Nun zu dem, was unsereins vielleicht gleich in den Sinn kommt: Die Agility in Unternehmen, die, wie alle vorhergehenden Agilitätsbegriffe, vom lateinischen „agilitas“ abgeleitet werden – Beweglichkeit heißt das. Die Wikipedia fasst dankenswerterweise die Funktion des großen Wortes im Management zusammen. Agilität sei, so das Lexikon, ein „Merkmal des Managements einer Organisation (...) flexibel und darüber hinaus proaktiv, antizipativ und initiativ zu agieren, um notwendige Veränderungen einzuführen.“ Wer vorher bei den Hündchen aufgepasst hat, weiß hier jetzt auch, wo der Haken an der Sache ist: „notwendige Veränderungen“.

Dient das Agile den Menschen?

Das ist eine Wieselphrase. Sie ist ähnlich jener, einen Hund, der springt (weil er springen soll), „intelligent“ zu nennen. Ist notwendig, was dem Erhalt der Organisation dient? Oder wäre es nicht notwendig, die Organisation komplett neu aufzustellen? Ist das Management proaktiv und vorausdenkend, weil es seine Strukturen erhalten will? Oder ist es wirklich intelligent und wagt es, Transformation ernst zu nehmen und die ganze Bude so auszurichten, dass sie wieder für ein paar Jährchen den Stürmen der Veränderung standhalten kann?

Und, die wahrscheinlich wichtigste Frage: Dient das Agile den Menschen – Mitarbeitenden wie Kunden – oder dem Systemerhalt, so wie das Stöckenspringen bei der Agility und das Simulieren von Jugendlichkeit im Alter? Ist das alles also nichts weiter als Theater, ein Ablenkungsmanöver, bei dem „notwendige Veränderungen“ eben nicht angestrebt sind, sondern im Gegenteil alles so bleiben soll, wie es ist, nur unter Vortäuschung falscher Tatsachen?

Dafür spricht die Flut an Dogmen, Regeln, Methoden und Methödchen, sektiererischem Gerede und absurdem Animationstheater in einem großen Teil des „agilen“ Milieus. Es scheint wieder mal so zu sein, dass unter falscher Flagge gesegelt wird: Wo „Agil“ draufsteht, ist Beschäftigungstherapie – auch für die Heerscharen einschlägiger Beraterinnen und Berater – drin. Das aber war nicht die Idee, sorry. Mehr Beweglichkeit ist keine Übung, sondern der Ernstfall der Wissensgesellschaft.

Etwas fauler Zauber reicht nicht für die Transformation

Wir sehen: Was uns heute am meisten abgeht, ist nicht Agilität und Flexibilität, sondern Aufrichtigkeit und Konsequenz, die einer Erkenntnis folgen. Die Transformation wird sich nicht mit etwas faulem Zauber zufriedenstellen lassen, bei dem das Überstöckenspringen „auf Augenhöhe“ und mit „wir haben eine Duz-Kultur“ stattfindet. Das alles ist nett, aber wenn es ohne Konsequenzen bleibt, also nicht zu mehr selbstbestimmter, selbstverantworteter Arbeit führt: Pillepalle.

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Agilität ist, wenn wir in der Lage sind, im Falle von Veränderungen und Überraschungen nicht in Schockstarre zu verfallen, sondern handlungsfähig bleiben. Dazu gehört auch, nichts verändern zu wollen, wenn das nicht notwendig und richtig erscheint. Niemand muss sich für sein Know-how schämen, seine Erfahrung vergessen, sich dümmer stellen und kleiner machen als er ist, über Stöckchen springen, die man ihm hinhält. Die einzig vernünftige Form von Agilität ist unternehmerisches Denken: Was bringt die Beweglichkeit? Und was nicht? Durchs Mitlaufen ist noch niemand schlauer und besser geworden. Oder, wie es der große Künstler Francis Picabia richtig sagte: „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.“ Agilität ist, wenn man das auch nutzt. In diesem Sinne, auf bald!

Ihr Wolf Lotter

Lesen Sie auch den ersten Teil der Kolumne: Das ist ja nicht normal!

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