Work in Progress „Viele Menschen arbeiten unter ihren Möglichkeiten“

Enzo Weber leitet am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) den Forschungsbereich „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“. Quelle: Willi Nothers

Die schwierige Suche nach Mitarbeitern vermiest etlichen Firmen schon heute das Geschäft. Und die Aussichten sind nicht besser: Die Schrumpfung der arbeitenden Bevölkerung steht noch bevor. Was ist zu tun?

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Die niedersächsische Kleinstadt Holzminden an der Grenze zwischen Niedersachen und Nordrhein-Westfalen ist bekannt als „Stadt der Düfte und Aromen“. Der Dax-Konzern Symrise, Hersteller von Aromastoffen, hat hier seinen Stammsitz. Doch ausgerechnet Holzminden macht Personalvorständin Stephanie Coßmann aktuell „am meisten Sorgen“. Der Grund: Die Stadt mit 20.000 Einwohnern hat trotz des Weserufers nicht annähernd so viel Strahlkraft wie München oder Berlin – und Symrise rekrutiert die Mitarbeiter vorwiegend aus der Region. Gut 12.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt Symrise – und sucht aktuell fast 200 weitere: Systemingenieure und Nachhaltigkeitsmanager, Chemielaborantinnen und Datenanalystinnen. „Der Fachkräftemangel betrifft uns derzeit vorwiegend in der Produktion in Deutschland“, sagt Coßmann.

Immerhin, in ihrer Klage steckt auch ein wenig Hoffnung: Es gebe noch Märkte „in dieser Welt“, in denen „Arbeitskräfte in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen“, sagt Coßmann. Ein Beispiel: Am Symrise-Produktionsstandort in Granada in Spanien gibt es „gut ausgebildete Fachkräfte, die zu deutlich geringeren Löhnen tätig sind“ , sagte Coßmann auf der Konferenz „Work in Progress“, die die Handelsblatt Media Group, zu der die WirtschaftsWoche gehört, gemeinsam mit Stepstone am 1. und 2. Juni in Düsseldorf veranstaltet.

Der Fachkräftemangel beschäftigt Betriebe landauf, landab nun schon seit Jahren. Und er vermiest ihnen mitunter gar das Geschäft. Fast die Hälfte der Unternehmen (46 Prozent) gab im vergangenen Dezember in einer Umfrage der KfW und des ifo-Instituts an, dass der Mangel an Arbeitskräften ihre Geschäftstätigkeit beeinträchtigt. Gerade im Dienstleistungssektor klagten besonders viele Firmen.

Moderatorin und WiWo-Ressortleiterin Kristin Rau (l.) mit Paula Wernecke (CMS), Stephanie Coßmann (Symrise), Daniel Terzenbach (Bundesagentur für Arbeit) und Enzo Weber (IAB). Quelle: Willi Nothers

Doch noch schlägt die Demografie gar nicht mit voller Härte zu. Noch sind viele Babyboomer im Job. Enzo Weber, Leiter des Forschungsbereichs Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), sagte deshalb auf der Konferenz: „Noch nie haben so viele Menschen gearbeitet wie jetzt. Die Knappheit, die wir im Moment haben, ist die größte seit dem Wirtschaftswunder und kommt vom Bedarf an Arbeitskräften. Wir sind Opfer des eigenen Erfolgs, wenn man so möchte.“

Zwei Millionen offene Stellen

Noch im vierten Quartal des vergangenen Jahres waren in Deutschland zwei Millionen Stellen offen, zeigen Zahlen von Webers Arbeitgeber – so viele wie nie zuvor. Im ersten Quartal 2023 jedoch sank dieser Wert deutlich, auf rund 1,75 Millionen. Gelöst ist der Fachkräftemangel deshalb noch lange nicht, wie andere Zahlen des IAB zeigen. Denn die Schrumpfung der arbeitenden Bevölkerung steht der Bundesrepublik erst noch bevor. Bis zum Jahr 2060 wird das Erwerbspersonenpotenzial um 11,7 Prozent sinken. Von 45,7 Millionen Menschen auf 40,4 Millionen. „Das ist sozusagen die demografische Zeitenwende“, sagt Weber. Es ist möglich, das auszugleichen, meint Weber, aber da muss man ganz viele verschiedene Hebel gleichzeitig in Bewegung setzen.

Was also hilft? Symrise-Vorständin Coßmann setzt auf Flexibilität, um Menschen zu gewinnen und zu binden. Selbst die Mitarbeiter im Schichtdienst können ihre Arbeit aufteilen, nach dem Motto: „Wenn ihr lieber am Freitagabend frei haben wollt, dann kommt am Sonntag.“ Die Arbeiter müssen nur Sorge dafür tragen, dass eine Mindestbesetzung vor Ort ist, erzählt Coßmann. Und Menschen im Homeoffice etwa fahren um 17 Uhr die Kinder zum Sport, sind an einem sonnigen Tag im Schwimmbad oder mit dem Fahrrad unterwegs. „Und setzen sich dann um 21 Uhr wieder hin“, sagt Coßmann.

von Varinia Bernau, Jannik Deters, Dominik Reintjes

Laut Daniel Terzenbach, Vorstand bei der Bundesagentur für Arbeit, gibt es drei große Hebel: Da wären zum einen die 50.000 Menschen, die Jahr für Jahr die Schule ohne einen Abschluss verlassen. Diese Menschen hätten später häufig Erwerbsbiografien, in denen sie mal hinein in die Arbeitslosigkeit rutschen, mal wieder heraus, wie Terzenbach sagt. Ließe sich die hohe Teilzeitquote von Frauen dank besserer Kinderbetreuung reduzieren, dürfte auch das helfen. Und: „In Deutschland wird noch nicht wertgeschätzt, dass Menschen lange arbeiten.“ Wer kann, sollte länger arbeiten.

Auch die Migration könnte ihren Teil leisten, um den Mangel an Arbeitskräften zu lindern. Doch bei der Einwanderung von ausländischen Fachkräften macht Deutschland bislang nicht genug, sagte Arbeitsmarktforscher Enzo Weber. „Viele Menschen arbeiten unter ihren Möglichkeiten.“ Wenn viele zugewanderte Menschen das Land wieder verließen, hilft das auch nicht gegen den Mangel an Arbeitskräften.



„Will die gehen?“

In der Rechts- und Steuerberatung waren die Geschäftseinbußen wegen des Fachkräftemangels im vierten Quartal 2022 über alle Wirtschaftsbereiche hinweg am stärksten. 68 Prozent der Firmen klagten darüber. Paula Wernecke, die bei der Wirtschaftskanzlei CMS in Deutschland die Personalarbeit leitet, weiß: Die Arbeitsintensität in der Branche gilt als hoch – und ist es auch. Als Ausgleich könne kein Arbeitgeber heute auf Benefits verzichten. Meist werden diese allerdings über einen gesamten Betrieb gestülpt. Wernecke hingegen versucht, den  individuellen Bedürfnissen der Mitarbeiter nachzukommen. Eine Mitarbeiterin berichtete ihr neulich, dass sie wahnsinnig gerne eine Zusatzausbildung in Programmierung absolvieren wollte. „Und dann war ich erst zögerlich, weil ich mir dachte: Will die gehen?“ Bis Wernecke erkannte, dass das Wissen auch der Kanzlei nützt. „Jeder, den das Thema Künstliche Intelligenz gerade nicht beschäftigt, hat den Schuss nicht gehört“, so Wernecke.

Es geht also darum zu erkennen, was die Arbeitnehmer wirklich wollen. Was sie motiviert. Dafür müssen Führungskräfte und Personaler die richtigen Fragen stellen, ist Wernecke überzeugt. „Da müssen wir Arbeitgeber verstehen, welche Schulungen und andere individuellen Maßnahmen wir anbieten.“

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Solche Strukturen samt professionellen und „nach vorne gerichteten“ Personalabteilungen finden sich laut Daniel Terzenbach vor allem in den großen Unternehmen. „Sorgen machen uns da die kleinen und mittleren Unternehmen, die all diese Rahmenbedingungen nicht haben“, sagt Terzenbach. Dort, wo der Inhaber noch bis 20 Uhr arbeitet – und diesen Lebensstil der Belegschaft vorlebt.

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