Frau Oettingen, viele Menschen suchen heute nach Motivationshilfe. Wieso eigentlich?
Oettingen: Möglicherweise ist das Bedürfnis nach Motivation bei vielen Menschen auch früher vorhanden gewesen. Aber man sprach weniger darüber. Es gab ja oft auch keine Alternativen. Die Lebensläufe waren weitgehend vorgezeichnet. Wenn es klar ist, dass bestimmte Berufe und Rollen von Generation zu Generation weitergegeben werden, wenn vorgezeichnet ist, wer mit wem wo wann spricht, und wenn der Sohn des Schreiners auch wieder Schreiner wird, so stellt sich die Frage von vornherein weniger, ob jemand für diese Aufgabe motiviert ist. Erst wenn sich die Möglichkeit eröffnet, verschiedene Dinge zu tun und die eigenen Ziele zu bestimmen, stellt sich auch die Frage, was man will und wie man die Ziele erreichen kann.
Ein großer Teil der Ratgeber-Literatur besteht, plakativ ausgedrückt, aus der Botschaft: Denke positiv, lebe deine Träume, dann werden sie wahr.
Ich möchte kein Urteil über andere Autoren fällen. Positive Tagträume sind auch grundsätzlich nichts Schlechtes. Sie können in schwierigen Lebenslagen beispielsweise akutes physisches und psychisches Leiden erleichtern - sich vorzustellen, wie schön die Zukunft sein wird, ist angenehm. Aber das bedeutet nicht, dass man der Erfüllung der Träume näher kommt, wenn man sich ihnen hingibt. Unsere jahrelangen Untersuchungen haben gezeigt, dass positive Tagträume davon abhalten können, dass man wirklich aktiv wird. Es erlaubt uns die Erfüllung der Wünsche virtuell, wodurch sie uns die Energie entziehen, die notwendig wäre, um sie im wirklichen Leben zu erreichen. So kann es vorkommen, dass Menschen nie die Frau oder den Mann ihrer Träume ansprechen, eine oft in Gedanken durchgespielte Reise nie versuchen oder den ersehnten Ausbildungsgang nie starten.
Mit Ihrer Methode des "mentalen Kontrastierens" wollen Sie die Menschen zum Handeln bringen.
Ja. Mentales Kontrastieren ist eine mentale Strategie, die auf Zukunftsträumen basiert, aber hier nicht stehen bleibt, sondern die positiven Zukunftsphantasien mit einem klaren Bewusstsein für die widerständige Realität anreichert. Die Lösung ist nicht, auf Träume und positives Denken zu verzichten. Es geht vielmehr darum, unsere Fantasien motivational zu nutzen - dadurch, dass wir sie dem gegenüberstellen, was uns oft zu ignorieren geraten wird: nämlich die Hindernisse in uns, die Sperren, die uns vom Handeln abhalten, die uns im Wege stehen. Mentales Kontrastieren, so zeigt eine Vielzahl von Studien, führt dazu, dass wir Pläne machen und Kraft gewinnen zur Umsetzung unserer Wünsche, wenn diese wichtig und auch erreichbar sind; mentales Kontrastieren führt aber auch dazu, dass wir unsere Energie in andere vielversprechendere Projekte investieren können, wenn die Wünsche nicht erreichbar oder am Ende doch nicht so wichtig sind.