Herr Hagemann, laut aktuellem Depressionsatlas der Techniker Krankenkasse sind die Fehlzeiten aufgrund von psychischen Erkrankungen von 2000 bis 2013 um 69 Prozent gestiegen. Sind wir jetzt alle depressiv?
Nein, sicherlich nicht. Dieser Anstieg ist auch mit der verbesserten Diagnostik zu erklären. Depressionen etwa zeigen sich häufig in Form von körperlichen Symptomen – Patienten klagen beispielsweise über Schlafstörungen oder haben Verdauungsprobleme. Früher wurden diese Beschwerden dann genauso behandelt, mit einem Schlafmittel oder Magen-Tabletten. Heute fragen Ärzte auch bei körperlichen Symptomen nach den psychischen Belastungen – dadurch werden Depressionen häufiger diagnostiziert. Zum anderen hat sich die gesellschaftliche Akzeptanz von derlei Erkrankungen verbessert. Die Menschen reden offener über ihre Probleme und suchen sich auch schneller Hilfe.
Über:
Hagemann ist Professor an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld mit Schwerpunkt Arbeits-, Organisations- & Gesundheitspsychologie.
Hamburg ist laut Studie die depressivste Stadt. Wie erklären Sie die regionalen Unterschiede?
Es gibt sicherlich Unterschiede zwischen Stadt und Land. Zum einen gibt es in den Städten mehr Experten, was auch wiederum heißt, dass die Diagnostik besser ist. Aber natürlich nehmen auch andere Faktoren auf die psychische Gesundheit Einfluss. Wie etwa die Arbeitslosenquote oder das Freizeitangebot. In Hamburg kommt vielleicht erschwerend hinzu, dass es sich um eine sehr reiche Stadt handelt, die aber mit einem krassen sozialen Gefälle zu kämpfen hat. Die Schere zwischen Arm und Reich geht weit auseinander. Es gibt viele soziale Brennpunkte, in denen die Bewohner am Rande des Existenzminiums leben - das spielt sicherlich auch eine Rolle.
Besonders häufig von Depressionen betroffen sind Callcenter-Mitarbeiter, Altenpfleger und Erzieher - warum gerade diese Berufe?
Alle drei Berufe haben zwei Dinge gemein: Eine hohe Arbeitsbelastung bei relativ schlechter Bezahlung. Mitarbeiter im Callcenter etwa haben viel mit unzufriedenen Kunden zu tun, in der Altenpflege bleibt immer weniger Zeit für den einzelnen Patienten, dafür kommen viele administrative Aufgaben hinzu. In der Kinderbetreuung haben die Erzieher mit einem hohem Lärmpegel zu kämpfen und bekommen vermehrt Druck von den Eltern – die Belastung in diesen drei Berufen ist seit Jahren angestiegen, die Wertschätzung aber nicht. Menschen werden depressiv, wenn sie auf Dauer das Gefühl haben, mehr zu investieren als sie zurückbekommen.
Symptome einer Depression
Deutliche Geschlechtsunterschiede finden sich bei der sogenannten unipolaren Depression, von der Frauen doppelt so häufig betroffen sind wie Männer. Diese Form ist gekennzeichnet durch Symptome wie verminderten Antrieb oder gesteigerte Müdigkeit, ...
... depressive Stimmung in einem ungewöhnlichen Ausmaß, die fast jeden Tag mindestens über zwei Wochen hinweg auftritt, ...
...Verlust an Interessen, keinerlei Freude mehr an Tätigkeiten, die einem früher mal Spaß und Befriedigung gebracht haben, ...
...Verlust des Selbstvertrauens und des Selbstwertgefühls sowie Selbstvorwürfe und Selbstzweifel,...
...Konzentrationsschwäche, Schlafstörungen, Appetitverlust oder gesteigerter Appetit.
(Quelle: Ursula Nuber, "Wer bin ich ohne dich?", Campus-Verlag)
Bleibt da nicht nur die Kündigung?
Nicht unbedingt. Es mag banal klingen, ist aber ganz wichtig: Man muss lernen abzuschalten. Zum Beispiel, in dem man für schöne Momente in der Freizeit sorgt. Und sich bewegt. Sport baut Stresshormone ab und wird deshalb auch in der professionellen Depressions-Therapie angewendet. Ein anderes wichtiges Thema ist Weiterbildung. Callcenter-Agenten zum Beispiel sollten regelmäßig darauf bestehen, Seminare in Gesprächsführung zu besuchen. Je besser man qualifiziert ist, desto leichter kann man seine Aufgaben erledigen. Die Mitarbeiter müssen das Gefühl haben, ausreichend gerüstet zu sein.
Falsche Macho-Attitüden statt Vernunft
Aber sind da nicht auch die Unternehmen verstärkt in der Pflicht?
Natürlich, das passiert ja teilweise auch schon. Noch vor zehn Jahren war die psychische Belastung am Arbeitsplatz kein Thema. Es herrschte vielmehr diese Macho-Attitüde „Ich arbeite bis zum Umfallen“. Aber da hat ein Umdenken stattgefunden.
Trotzdem müssen sich die Unternehmen verstärkt mit der Arbeitsorganisation beschäftigen – denn es gibt heute zahlreiche besondere Stressfaktoren. Beispielsweise arbeiten wir immer mehr in sich ständig ändernden Projektstrukturen. Solche Projekte werden häufig schlecht gemanagt oder nicht zu Ende geführt und verlaufen im Sande. Das ist für die Mitarbeiter extrem zeitraubend und frustrierend. Zum anderen sind die vielen Arbeitsunterbrechungen ein Problem. Studien haben ergeben, dass wir heute zwischen 40 und 60 Mal am Tag unsere E-Mails checken. Das bedeutet, dass wir unsere Arbeit im Schnitt alle zehn Minuten unterbrechen. Nach jeder Unterbrechung brauchen wir aber drei bis vier Minuten um wieder in unser Thema reinzukommen. Das heißt wir arbeiten netto zwei Stunden am Tag wirklich konzentriert, haben aber am Ende des Tages das Gefühl, zehn Stunden durchgeackert zu haben.
Was kann man dagegen tun?
Unternehmen können zum Beispiel die Anweisung geben, dass Mails nur von 14.00 bis 15.00 Uhr gelesen werden. Das kann dann jeder Arbeitnehmer in seine Signatur schreiben und alle wissen Bescheid. Bei der Projektarbeit ist das natürlich ein bisschen schwieriger. Projekte müssen gut strukturiert und geleitet werden, zudem müssen die Ziele und Erfolgskriterien klar definiert sein. Ergebnisse müssen regelmäßig besprochen werden und sobald man merkt, dass man auf eine Sackgasse zusteuert, sollte man das Projekt beenden. Allerdings sind viele Projekte, z.B. in der Entwicklung, aufgrund zahlreicher Anforderungen, äußerst komplex und damit kaum noch steuerbar. Hier muss überlegt werden, welche zusätzlichen Ressourcen und Hilfsmittel, den Mitarbeitenden zur Verfügung gestellt werden können.
Fünf Wege aus der Depression
Die Therapeutin und Autorin Ursula Nuber zeigt in ihrem Buch "Wer bin ich ohne dich?" fünf Wege aus der Depression. Die 1. Strategie lautet: Den Sinn der Depression erkennen. Dabei ist es für betroffene Frauen wichtig herauszubekommen, welcher Sinn, welche Botschaft für sie in der Krankheit enthalten ist. Dazu gehört auch, dass sie nicht ausschließlich auf hormonelle Veränderungen, biochemische Ungleichgewichte im Gehirn oder Erbfaktoren zurückgeführt und damit zu einem rein medizinischen Problem reduziert werden sollte. Wenn es gelingt, die Botschaft zu entschlüsseln, kann sich die Depression als grundlegende Veränderung zum Positiven nutzen lassen.
So wie Angst ein Signal für Gefahr ist, so ist die Depression häufig ein Signal, dass eine Frau sich vor vergeblichen Anstrengungen schützen sollte.
In dieser Phase können Frauen viel Neues über sich lernen. Sie bekommen eine Ahnung, was genau ihnen nicht gut tut, wo sie die Weichen anders stellen müssen. Sie achten nicht nur darauf, wann sie sich besonders niedergeschlagen und ungeliebt fühlen, sie achten ebenso darauf, wer und was ihnen dabei hilft, damit die Depression weniger intensiv spürbar ist. Sie erkennen, dass sie kein passives Opfer der Krankheit sein müssen, sondern durchaus Einfluss auf sie nehmen können - zum Beispiel indem sie sich in Bewegung setzen.
Die Erfahrung, nicht auf sich allein gestellt zu sein, kann auf dem Weg aus der Depression so etwas wie ein Leitstern werden. Vor allem Freundinnen können hilfreich im Prozess der Selbstfindung sein. Es ist eine weibliche Anti-Stress-Strategie, sich in schwierigen Zeiten mit Geschlechtsgenossinnen zu verbünden und gemeinsam mit ihnen den Stürmen zu trotzen.
Nachhaltig helfen kann auch eine rechtzeitige psychotherapeutische Behandlung, die das Risiko, an weiteren Depressionen zu erkranken, deutlich senkt. Der richtige Therapeut kann also ein äußerst wichtiger Begleiter bei der Depressionsarbeit sein. Ausschlaggebend für den Erfolg ist nicht in erster Linie die Methode, sondern die Beziehung, die zwischen dem Therapeuten und der Klientin entsteht.
Niemanden behandeln Frauen, ganz besonders depressive Frauen, so schlecht wie sich selbst. Depressionsgefährdete Frauen neigen dazu, mit sich selbst ungeduldig zu sein und sich selbst zu kritisieren, sie beschuldigen sich für ihr Versagen und werfen sich vor, anderen Menschen Probleme zu bereiten.
Doch wichtig ist vor allem die Selbstfürsorge und das Mitgefühl für sich selbst. Kommt die Selbstfürsorge dauerhaft zu kurz, dann kann das auch zu einem Stressfaktor werden, der in die Depression führen kann. Frauen müssen erkennen, dass ihr Leben nicht dadurch lebenswert wird, indem sie möglichst viel für andere leisten, sondern dass es vielmehr darauf ankomme, dass sie sich möglichst viel ersparen.
Die reife Form der Aggressionsverarbeitung kann man nur dadurch erwerben, dass man Erfahrungen mit seiner Aggression macht. Wir alle haben das Recht auf alles, was wir fühlen. Das geringe Selbstwertgefühl Depressiver hat eine wichtige Wurzel in ihrer nicht gewagten, nicht gekonnten Aggressivität. Depressive Frauen müssen lernen, den Ton lauter zu stellen. Frauen, die ihre Depression überwinden wollen, müssen ihre Rolle als nettes Mädchen aufgeben. Denn Nettsein ist eine Einbahnstraße. Wer nett ist, ist beliebt, aber er wird ausgenutzt und bekommt nicht, was er sich wünscht, nämlich Anerkennung und eine Gegenleistung für das Nettsein.
(Quelle: Ursula Nuber, "Wer bin ich ohne dich?", Campus-Verlag)
Es gibt aber auch Berufsgruppen, die besonders wenig von Depressionen betroffen sind. Zum Beispiel Ärzte, Selbstständige und Professoren - Die haben aber auch nicht wenig zu tun.
Das stimmt, in diesen Berufen ist das Arbeitsaufkommen ebenfalls hoch. Aber der gewaltige Unterschied ist, dass sie sich im Gegensatz zum Callcenter-Agenten ihre Arbeit freier organisieren können und gut bezahlt werden. Die Universität Stanford hat in einer Studie die Stresshormone im Blut von Mitarbeitern eines Unternehmens gemessen: Von der einfachen Führungskraft bis zum CEO waren dabei alle Hierarchieebenen vertreten. Am wenigsten Stresshormone wurden bei den CEO´s gemessen – und das bestimmt nicht, weil die nichts zu tun haben. Aber sie haben die meisten Freiheiten, eine hohe Handlungskontrolle, Ansehen und werden am besten bezahlt.
Der Depressionsatlas zeigt auch, dass Frauen sehr viel häufiger betroffen sind als Männer. Warum?
Zum einen liegt auch das an der Diagnostik: Frauen gehen häufiger zum Arzt und sie haben weniger Hemmungen über ihre psychischen Probleme zu sprechen. Das ist bei Männern anders. Aber ein Blick auf die drei Berufsgruppen, die am häufigsten von Depressionen betroffen sind, zeigt auch: Das sind klassische Frauenberufe. In der Altenpflege liegt der Frauenanteil bestimmt bei 85 Prozent, im Kindergarten bei 90 Prozent. Und Frauen haben mit Kind und Haushalt immer noch häufiger mit einer Doppelbelastung zu kämpfen als Männer.
Wie wird das in Zukunft weitergehen? Erwartet uns in einem Jahr der nächste Höchststand?
Ich glaube die Spitze des Eisbergs ist noch nicht erreicht. Aber vermutlich wird der Anstieg nicht mehr so dramatisch sein. Es gibt ganz verschiedene Faktoren, die Einfluss auf die Fehltage nehmen. Steigt etwa die Arbeitslosigkeit an, nehmen die Fehltage ab. Denn dann trauen sich viele nicht, sich krankschreiben zu lassen. Aus Angst, den Job zu verlieren. Ich glaube aber auch, dass die Gefahr einer Überdiagnose besteht. Jeder Mensch hat mal eine depressive Phase in seinem Leben, das ist aber etwas anderes als wirklich unter Depressionen zu leiden.