Psychologe Tim Hagemann Depressiv wird, wer mehr gibt als er zurück bekommt

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Falsche Macho-Attitüden statt Vernunft

Aber sind da nicht auch die Unternehmen verstärkt in der Pflicht?

Natürlich, das passiert ja teilweise auch schon. Noch vor zehn Jahren war die psychische Belastung am Arbeitsplatz kein Thema. Es herrschte vielmehr diese Macho-Attitüde „Ich arbeite bis zum Umfallen“. Aber da hat ein Umdenken stattgefunden.

Welche Berufe am wenigsten krank machen
MedienschaffendeInsgesamt wurden Daten von 4,1 Millionen bei der TK Versicherten ausgewertet. Extrem wenig krankheitsbedingte Ausfälle finden sich in medialen Berufen. Hier melden sich Angestellte durchschnittlich nur 11,8 Tage im Jahr krank. Doch die Medienmacher sind noch nicht die Spitzenreiter bei den geringsten Fehlzeiten. Quelle: dpa
AgrarberufeBerufstätige im Agrarbereich kommen durchschnittlich auf 17,2 Fehltage im Jahr. Damit liegen sie etwas über dem Durchschnitt. Erklären lässt sich dieses Ergebnis mit der oft körperlich anstrengenden Arbeit. Zu beachten ist allerdings auch der sogenannte „Healthy Worker Effect“. Körperlich überdurchschnittlich gesunde Personen werden gezielt für besonders schwere Tätigkeiten angestellt. So können je nach Berufsgruppe trotz hoher Belastung relativ geringe Erkrankungsraten resultieren. Übrigens: Während Männer häufiger an Verletzungen der Gelenke leiden, erkranken Frauen öfter an den Atemwegen. Quelle: dpa
Bau- und HolzberufeIn den Bau- und Holzberufen fehlen die Angestellten mit am häufigsten. Sie melden sich im Schnitt rund 21,5 Tage im Jahr krank. Das lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass ein Handwerker grundsätzlich einem höheren Verletzungsrisiko ausgesetzt ist, als zum Beispiel ein Versicherungsangestellter. Quelle: dpa
ElektroberufeWie Turner auf einem Strommast erscheinen die Arbeiter im Bild. Auch wenn das scheinbare Risiko der Situation es nahe legen mag: Elektro-Angestellte sind nicht allzu oft krankgeschrieben. Männer bringen es nur auf 15,4 Fehltage im Jahr. Frauen fehlen dafür in dieser Berufssparte besonders oft: 20,1 Tage im Jahr. Frauen lassen sich allerdings auch insgesamt öfter krankschreiben als Männer. Sie fehlen durchschnittlich drei Tage im Jahr länger als ihre männlichen Kollegen. Quelle: dapd
Ordnungs- und SicherheitsberufeDie Ordnungs- und Sicherheitsbeauftragten fehlen im Vergleich etwas öfter als der Durchschnitt. Während Männer 16,4 Tage im Jahr fehlen, lassen sich Frauen durchschnittlich 18,3 Tage im Jahr krankschreiben. Quelle: dpa
Friseure / Gästebetreuer / Hauswirtschafter / ReinigerFriseure, Gästebetreuer, Hauswirtschafter und Reiniger fehlen erstaunlich häufig. Im Schnitt ist diese Berufsgruppe rund 19,6 Tage im Jahr krankgemeldet. Quelle: dpa
Sozial- und Erziehungsberufe, SeelsorgerBei den Sozial- und Erziehungsberufen fällt eines besonders auf: Männer fehlen mit 11,3 Tagen im Jahr sehr selten, Frauen im Vergleich mit 17,8 Tagen eher häufig. Gründe für Krankmeldungen sind nicht immer körperlichen Ursprungs. Oft spielt auch psychischer Druck eine große Rolle. Quelle: dpa

Trotzdem müssen sich die Unternehmen verstärkt mit der Arbeitsorganisation beschäftigen – denn es gibt heute zahlreiche besondere Stressfaktoren. Beispielsweise arbeiten wir immer mehr in sich ständig ändernden Projektstrukturen. Solche Projekte werden häufig schlecht gemanagt oder nicht zu Ende geführt und verlaufen im Sande. Das ist für die Mitarbeiter extrem zeitraubend und frustrierend. Zum anderen sind die vielen Arbeitsunterbrechungen ein Problem. Studien haben ergeben, dass wir heute zwischen 40 und 60 Mal am Tag unsere E-Mails checken. Das bedeutet, dass wir unsere Arbeit im Schnitt alle zehn Minuten unterbrechen. Nach jeder Unterbrechung brauchen wir aber drei bis vier Minuten um wieder in unser Thema reinzukommen. Das heißt wir arbeiten netto zwei Stunden am Tag wirklich konzentriert, haben aber am Ende des Tages das Gefühl, zehn Stunden durchgeackert zu haben.

Was kann man dagegen tun?

Unternehmen können zum Beispiel die Anweisung geben, dass Mails nur von 14.00 bis 15.00 Uhr gelesen werden. Das kann dann jeder Arbeitnehmer in seine Signatur schreiben und alle wissen Bescheid. Bei der Projektarbeit ist das natürlich ein bisschen schwieriger. Projekte müssen gut strukturiert und geleitet werden, zudem müssen die Ziele und Erfolgskriterien klar definiert sein. Ergebnisse müssen regelmäßig besprochen werden und sobald man merkt, dass man auf eine Sackgasse zusteuert, sollte man das Projekt beenden. Allerdings sind viele Projekte, z.B. in der Entwicklung, aufgrund zahlreicher Anforderungen, äußerst komplex und damit kaum noch steuerbar. Hier muss überlegt werden, welche zusätzlichen Ressourcen und Hilfsmittel, den Mitarbeitenden zur Verfügung gestellt werden können.   

Fünf Wege aus der Depression

Es gibt aber auch Berufsgruppen, die besonders wenig von Depressionen betroffen sind. Zum Beispiel Ärzte, Selbstständige und Professoren - Die haben aber auch nicht wenig zu tun.

Das stimmt, in diesen Berufen ist das Arbeitsaufkommen ebenfalls hoch. Aber der gewaltige Unterschied ist, dass sie sich im Gegensatz zum Callcenter-Agenten ihre Arbeit freier organisieren können und gut bezahlt werden. Die Universität Stanford hat in einer Studie die Stresshormone im Blut von Mitarbeitern eines Unternehmens gemessen: Von der einfachen Führungskraft bis zum CEO waren dabei alle Hierarchieebenen vertreten. Am wenigsten Stresshormone wurden bei den CEO´s gemessen – und das bestimmt nicht, weil die nichts zu tun haben. Aber sie haben die meisten Freiheiten, eine hohe Handlungskontrolle, Ansehen und werden am besten bezahlt.

Der Depressionsatlas zeigt auch, dass Frauen sehr viel häufiger betroffen sind als Männer. Warum?

Zum einen liegt auch das an der Diagnostik: Frauen gehen häufiger zum Arzt und sie haben weniger Hemmungen über ihre psychischen Probleme zu sprechen. Das ist bei Männern anders. Aber ein Blick auf die drei Berufsgruppen, die am häufigsten von Depressionen betroffen sind, zeigt auch: Das sind klassische Frauenberufe. In der Altenpflege liegt der Frauenanteil bestimmt bei 85 Prozent, im Kindergarten bei 90 Prozent. Und Frauen haben mit Kind und Haushalt immer noch häufiger mit einer Doppelbelastung zu kämpfen als Männer.

Wie wird das in Zukunft weitergehen? Erwartet uns in einem Jahr der nächste Höchststand?

Ich glaube die Spitze des Eisbergs ist noch nicht erreicht. Aber vermutlich wird der Anstieg nicht mehr so dramatisch sein. Es gibt ganz verschiedene Faktoren, die Einfluss auf die Fehltage nehmen. Steigt etwa die Arbeitslosigkeit an, nehmen die Fehltage ab. Denn dann trauen sich viele nicht, sich krankschreiben zu lassen. Aus Angst, den Job zu verlieren. Ich glaube aber auch, dass die Gefahr einer Überdiagnose besteht. Jeder Mensch hat mal eine depressive Phase in seinem Leben, das ist aber etwas anderes als wirklich unter Depressionen zu leiden.

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