Psychologie Die Deutschen sollten wieder träumen

Der Psychologe Stephan Grünewald sieht Deutschland als eine "erschöpfte Gesellschaft". Gegen das Effizienzdiktat der Controller empfiehlt er die Besinnung auf die schöpferische Kraft des Traumes.

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Für den Psychologen und Buchautor Stephan Grünewald ist das Träumen die Voraussetzung für Kreativität und Innovation. Quelle: Presse

WirtschaftsWoche: In ihrem Buch "Die erschöpfte Gesellschaft" fordern Sie die Deutschen zum Träumen auf. Der Traum als Therapie gegen die "besinnungslose Betriebsamkeit". Sollen wir nun also alle den Griffel fallen lassen und den Kopf auf den Schreibtisch legen?

Stephan Grünewald: Auf den ersten Blick könnte man sagen, der Grünewald untergräbt die Arbeitsmoral.

Stimmt.

Meine zentrale These ist: Schöpferisches Arbeiten funktioniert nicht über eine Vereinseitigung - indem wir nur in preußischer Akkuratesse am Schreibtisch kleben - sondern funktioniert durch eine Rhythmik von Innehalten und Betriebsamkeit, von Abstraktion und Einfühlung, von Effizienz und Träumen. Und diese Rhythmik sehe ich bedroht. Das finde ich gerade für Deutschland schlimm, weil wir das Land der Träumer, Dichter und Querdenker sind. Was wir ungemein gut können, ist, unsere innere Unruhe über das Träumen in Schöpferkraft zu verwandeln. In Erfindungen, aber auch in Dichtung und philosophische Theorien.

Stephan Grünewald -

Nun schläft und träumt ja sowieso jeder Mensch jede Nacht.

Aber wir geben dem Traum am Tage keinen Raum mehr. Wir sind jede Nacht sechs, sieben, acht Stunden stillgelegt. Diese Stilllegung ermöglicht es dem Seelischen den Tag quer zu bürsten, die Erlebnisse noch mal ganz anders durchzuspielen und vieles, was uns nebensächlich erscheint, hervorzuheben. Andere Dinge, die wir am Tag wichtig genommen haben, relativiert der Traum. Er ist ein Korrektiv für die Überspanntheit, die Betriebsblindheit des Tages. Allein, wir haben einen Alltag gebaut, der dieses Korrektiv gar nicht mehr zur Kenntnis nimmt, sondern es systematisch abblockt. Eine unbewusste Traumfeindlichkeit führt dazu, dass wir dem Effizienzdiktat schon unmittelbar nach dem Aufstehen folgen. Viele hasten dann gleich zum Smartphone oder Computer und überprüfen, ob sie wichtige Mails haben. Es sind eigentlich simple Ratschläge, die ich gebe: Wir brauchen im Alltag Freiräume, Phasen, um zur Besinnung zu kommen und durchlässiger zu werden für das Unbewusste und Ungeahnte. Länger liegen bleiben, Dehnungsfugen einbauen. Ein ausgedehntes Frühstück, bei dem wir nicht nur das Essen, sondern auch die Tagesprobleme durchkauen.

Was die Deutschen bei der Arbeit krank macht
Die Liste prominenter Namen ist lang: Ex-SPD-Chef Matthias Platzeck, Schauspielerin Renée Zellweger, Fernsehkoch Tim Mälzer, Skispringer Sven Hannawald, Profifußballer Sebastian Deisler und auch die Medienwissenschaftlerin Miriam Meckel. Ihre Gemeinsamkeit: Wegen völliger Erschöpfung zogen sie die Reißleine. Aber es trifft nicht nur Prominente. Psychische Erkrankungen sind der Grund Nummer eins, warum Arbeitnehmer eine Auszeit brauchen - oder sogar in Frührente gehen. Ganze 41 Prozent der Frühverrentungen haben psychische Erkrankungen als Ursache. Diese nahmen laut Krankenkasse DAK-Gesundheit 2012 um vier Prozent zu, rückten erstmals auf Platz zwei aller Krankschreibungen hinter Muskel- und Skeletterkrankungen. Und die Ursachen für diese Krankheiten der Seele liegen oft im Job. Quelle: Fotolia
Die globalisierte Arbeitswelt, die internationalen Verflechtungen der Konzerne, der Konkurrenzdruck: All das zusammen erhöht die Anforderungen an die Beschäftigten. Ihre Arbeitstage werden immer länger, auch an den Wochenenden sitzen sie im Büro oder zu Hause am Schreibtisch, überrollt von einer Lawine von E-Mails. In dieser Tretmühle sind viele dann ausgelaugt, überfordert, verzweifelt, kraftlos. Der Akku ist - salopp gesprochen - leer. Quelle: Fotolia
Die Arbeitsbelastung führe zudem auch immer öfter zu Krankheiten, heißt es weiter. Klagten 2006 noch 43 Prozent über Rückenschmerzen waren es im vergangenen Jahr bereits 47 Prozent. Während 2006 nur 30 Prozent unter stressbedingten Kopfschmerzen litten, waren es 2012 bereits 35 Prozent. Die Anzahl der von nächtlichen Schlafstörungen geplagten Arbeitnehmern stieg von 20 auf 27 Prozent. Quelle: Fotolia
Am häufigsten belastet fühlen sich die Beschäftigten - 58 Prozent - nach dem neuen "Stressreport Deutschland 2012 " der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) durch Multitasking, also das Sich-Kümmern-Müssen um mehrere Aufgaben gleichzeitig. Quelle: Fotolia
Jeder zweite der rund 18000 Befragten (52 Prozent) arbeitet unter starkem Termin- und Leistungsdruck. Laut BAuA hat sich der Anteil der von diesen Stressfaktoren betroffenen Beschäftigten auf dem relativ hohen Niveau des vergangenen Jahrzehnts stabilisiert. Jeder vierte (26 Prozent) lässt sogar die nötigen Ruhepausen ausfallen, weil er zu viel zu tun hat oder die Mittagspause schlicht nicht in den Arbeitsablauf passt. Quelle: Fotolia
Immerhin 43 Prozent klagen aber über wachsenden Stress innerhalb der vergangenen zwei Jahre. Außerdem wird fast jeder Zweite (44 Prozent) bei der Arbeit etwa durch Telefonate und E-Mails unterbrochen, was den Stress noch erhöht. Quelle: Fotolia
Insgesamt 64 Prozent der Deutschen arbeiten auch samstags, 38 Prozent an Sonn- und Feiertagen. So kommt rund die Hälfte der Vollzeitbeschäftigten auf mehr als 40 Arbeitsstunden pro Woche, rund ein Sechstel arbeitet sogar mehr als 48 Stunden. Und das ist nicht gesund: Seit Längerem weisen Wissenschaftler auf einen Zusammenhang zwischen langen Arbeitszeiten, psychischer Belastung und gesundheitlichen Beschwerden hin: Je mehr Wochenarbeitsstunden, desto anfälliger. Bei Menschen, die 48 Stunden und mehr pro Woche arbeiten, ist die Gefahr für physische und psychische Erkrankungen am höchsten. Quelle: Fotolia

Ich kann mich oft schon bald nach dem Aufstehen nicht mehr an den Traum erinnern. Ist das ein Verlust?

Es ist gar nicht so wichtig, dass man sich an Träume genau erinnern kann. Träume sind ja kein Faktenwissen, sondern Sinnbilder. Wichtig ist, dass wir Momente im Alltag haben, die nicht verplant sind. Wo wir spüren können, was mit uns los ist. Nehmen Sie den normalen Alltag einer Frau. Der ist chronisch überfrachtet durch eine Vielzahl von Perfektionsidealen. Sie will die gute Mutter sein, die ihre Kinder rund um die Uhr umsorgt, aber auch erfolgreich im Beruf sein und Karriere machen, sie will bis ins hohe Alter die attraktive Gespielin sein, sie will die Freundin ihrer Kumpaninnen sein, stets zu jedem Pferdediebstahl bereit. Und sie will sich auch noch selbst verwirklichen. Nun merkt die Frau täglich, dass sie das gar nicht unter einen Hut kriegt. Am Ende des Tages hat sie ein schlechtes Gewissen, weil die Kinder nicht bespielt wurden, im Büro ist was liegen geblieben, die Freundin hat sie nicht angerufen und auf Sex hat sie schon seit Wochen keine Lust mehr. Wir wollen auf fünf, sechs Hochzeiten gleichzeitig tanzen. Und es gibt dabei keine Rollenaufteilung und Hierarchisierung mehr. Der Mann muss Vater und Frauenversteher sein, aber auch noch aussehen wie Tarzan und dafür in die Muckibude gehen. Aber wenn wir all diesen Perfektionsidealen folgen, erleben wir am Ende des Tages nur Erschöpfung und ein schlechtes Gewissen.

"Der Traum ist manchmal vernünftiger als der Alltag"

Die "erschöpfte Gesellschaft" ist also nicht nur eine Folge der Arbeitsbedingungen. Aber wie kann der Traum das verhindern?

Er bringt da eine Gewichtung rein. Im Traum merken wir, was uns wirklich wichtig ist. Vielleicht ist es die Zweisamkeit. Vielleicht sagt der Traum uns auch: Das ist jetzt eine wichtige Phase deiner Karriere, konzentrier dich darauf. Der Traum ist manchmal viel vernünftiger als der Alltag. Der Alltag ist, könnte man fast sagen, wahnhaft konstruiert. Wir überdrehen an allen Ecken und Enden. Wenn wir uns auf unsere Träume besinnen, kommen wir wieder an den Punkt, der uns wirklich bedeutsam und wichtig ist.

Wovon sprechen wir jetzt? Vom Traum im Schlaf oder vom Tagtraum?

Ich differenziere im Buch zwischen Nachtträumen, Tagträumen, Lebensträumen und absoluten Wunschträumen. Letztere sind verheerend, da müssen wir aufpassen. Der Tagtraum ist wichtig, um am Tag überhaupt bestehen zu können. Er hat kompensatorische Funktion. Er beschwichtigt und tröstet uns, weil er im Reich der Fantasie frustrierende Erfahrungen kompensiert.

Was bei der Arbeit stresst
Zu viel Verantwortung oder ständiges an die-Arbeit-denken, auch in der Freizeit gaben 18 Prozent der Befragten als Grund für Stress bei der Arbeit an. Nur in Tschechien können die Beschäftigten außerhalb des Arbeitsplatzes schwerer abschalten - dort gaben 28 Prozent an, dauernd an die Arbeit denken zu müssen. Auf der anderen Seite der Skala ist Luxemburg: nur fünf Prozent haben dort dieses Problem. Quelle: Fotolia
Keinen Stress haben dagegen nur sieben Prozent der deutschen Befragten. Genauso niedrig ist der Anteil derer, die ihren aktuellen Job nicht mögen. Quelle: Fotolia
Unangemessener Druck vom Chef nannten 27 Prozent der Befragten hierzulande als Stressgrund. In Brasilien sind es dagegen 44 Prozent. Quelle: dapd
Wenn der Chef sich eher um sein Handicap kümmert, statt ordentlich zu führen: 28 Prozent der Befragten sind mit der Managementfähigkeit des Chefs unglücklich. Das Unvermögen des führenden Managers, das zu Stress führt, scheint in Luxemburg relativ unbekannt zu sein - nur 11 Prozent der Befragten sind dort mit den Befragten unglücklich, in Dubai sind es gar neun Prozent. Quelle: dapd
Dass unangenehme Kollegen oder fieser Büroklatsch zu Stress führen kann, ist allgemein bekannt. Dementsprechend führen auch 31 Prozent der Befragten das als Stressgrund an - der Anteil derer, die das ähnlich sehen, liegen in allen anderen Ländern fast gleich hoch - außer in Brasilien: 60 Prozent der Befragten geben unangenehme Kollegen und fiesen Büroklatsch als Stressgrund an. Quelle: Fotolia
Ein weitere Stressgrund: personelle Unterbesetzung. 41 Prozent der Befragten sehen das als wichtigen Grund für Stress bei der Arbeit an - ein Wert, der fast in allen Ländern ähnlich ist. Quelle: Fotolia
Doch am problematischsten, laut der Studie: die hohe Arbeitsbelastung. 51 Prozent der Befragten gaben dies als Stressgrund an. Deutschland liegt damit im Schnitt, auch in den anderen elf Ländern ist ein ähnlich hoher Anteil der gleichen Meinung. Quelle: Fotolia

Zum Beispiel?

Wenn Brüderle an der Bar getagträumt hätte, wäre ihm einiges erspart geblieben. Der Tagtraum macht uns zum tollen Verführer, in dem wir jede Frau ins Bett kriegen, ohne sie angesprochen zu haben. Der Tagtraum macht das Leben erst aushaltbar. Er kann hin und wieder in seinen Übersteigerungen auch mal Quell der Inspiration sein. Aber er hat nicht das große Gewicht wie der nächtliche Traum. Nächtliche Träume weisen uns darauf hin, was wichtig ist und was unsere Berufung sein könnte. Aus den Bildern und Kernformen des Nachttraums kann auch ein Lebenstraum werden, wenn man sich dieser Dinge annimmt und fragt: Wie kann ich das umsetzen? Wie kann das eine Leitlinie für mein Leben sein.

Sie betonen in Ihrem Buch das besondere deutsche Talent fürs Träumen. Das dürfte bei manch einem auch auf Ablehnung stoßen. Die deutsche Träumerei, die Romantik, wird von vielen Historikern als Ursache für den "Sonderweg", also die dunkle und letztlich verbrecherische Tendenz der deutschen Geschichte gesehen.

Das Träumen ist immer relativ, also auf den letzten Tag bezogen. Wir träumen jede Nacht anders. Der deutsche Sonderweg hat damit zu tun, dass es Phasen in der Geschichte gab, wo wir aus der Relativität des Träumens in die Absolutheit eines Wunschtraumes umgestiegen sind, der für tausend Jahre erfolgreich sein sollte. Der gar keine Zweifel, keine Angst, keine Korrekturen mehr zuließ. Der Zweifel und die Angst sind aber Geschwister des Träumens. Eine Gesellschaft wächst mit der Fähigkeit zu träumen und sie geht unter durch ihre Flucht in den absoluten Wunschtraum. Wenn eine Idee, auch eine romantische, verabsolutiert wird, wenn sie Gültigkeit für alle Zeiten und alle Menschen beansprucht, dann negieren wir das unruhevolle, das faustisch Suchende, das ein schöpferischer Antrieb ist. Dann geraten wir in die Finsternis des Tausendjährigen Reiches.

Sind wir heute eine psychisch kranke Gesellschaft?

Die Krankheit lag natürlich in den Jahren vor 1945, aber auch in den Jahren danach. Mitscherlich sprach von der "Unfähigkeit zu trauern". Heute sind wir noch in der Lage, uns zu reflektieren. Es krankt, aber wir sind keine kranke Gesellschaft.

"Permanenter Leistungsdruck sabotiert Ressourcen"

Welche Berufe glücklich machen
die glücklichsten Menschen arbeiten in Hamburg Quelle: dpa
Die Jobsuchmaschine Indeed hat sich der Zufriedenheit deutscher Arbeitnehmer angenommen und nachgefragt, wer mit seinem Job besonders zufrieden ist. Die glücklichsten Berufe in Deutschland sind demnach eine bunte Mischung aus allen Ausbildungswegen und Hierarchiestufen. So gehören zu den Top 20 der zufriedensten Berufe viele traditionelle Handwerksberufe wie Maurer, Tischler oder Elektriker. Zufrieden sind allerdings auch - entgegen aller Klischees - Lehrer und Krankenschwestern. An der Spitze der Liste stehen Trainer, studentische Hilfskräfte und, wenig überraschend, Geschäftsführer. Laut dem Meinungsforschungsinstituts YouGov sind allgemein nur sieben Prozent der Deutschen wirklich unzufrieden mit ihrem Job, 75 Prozent der Arbeitnehmer macht ihre Arbeit mehrheitlich Spaß. Damit sie sich im Beruf wohl fühlen, brauchen 27 Prozent der Beschäftigten neue Herausforderungen, für 18 Prozent ist ein abwechslungsreicher Arbeitsalltag wichtig, für 15 Prozent bessere Gehaltsaussichten. Immerhin 14 Prozent wollen „etwas Sinnvolles“ für die Gesellschaft tun. Die folgenden Berufe erfüllen diese Kriterien - und machen glücklich. Quelle: Fotolia
Gärtner und Floristen sind zu 87 Prozent glücklich. "Ich arbeite in einer Umgebung, die ich mag, und tue etwas lohnendes und sinnvolles", gaben sogar 89 Prozent von ihnen an. Quelle: Fotolia
Jemand frisiert einen Puppenkopf Quelle: dpa
Männer arbeiten an Toiletten. Quelle: AP
Die ersten Nicht-Handwerker in der Glücksrangliste sind ausgerechnet Marketing- und PR-Leute (75 Prozent). Die Wahrheit steht offenbar nicht in direktem Zusammenhang mit dem Glück. Quelle: Fotolia
Jemand hält einen Glaskolben mit einer Flüssigkeit darin. Quelle: AP

Sie glauben, dass die Psychologie eine politische Aufgabe hat. Sie soll nicht nur dem einzelnen Patienten, sondern der ganzen Gesellschaft helfen.

Sie soll hinterfragen und Denkanstöße geben. Als Psychologe gehe ich davon aus, dass es kein goldenes Zeitalter gibt. Jede Zeit hat ihre blinden Flecken. Perfektion und Vollkommenheit sind Wunschträume. Wir müssen unsere widersprüchlichen Wünsche in jeder Zeit aufs Neue austarieren. Aber egal was wir tun, am Ende bleiben irgendwelche Wünsche unerfüllt. Die Rolle der Psychologen ist, darauf hinzuweisen, was der blinde Fleck des jeweiligen Zeitabschnitts ist. Und dadurch den Einzelnen und die ganze Gesellschaft zu sensibilisieren, diesen blinden Fleck in den Blick zu nehmen und das Verhalten zu ändern. Heute sage ich: Wir sind so im Bann der Betriebsamkeit und der globalen Leistungsdiktate, dass wir vollkommen vergessen, was mit uns selbst ist, aber auch, was unsere gesellschaftliche Stärke ist. Falls wir wirklich das Land der Bürokraten und Workaholics werden wollten, dann müssen wir als gute Psychologen konstatieren, dass das andere vielleicht viel besser können. Ich plädiere aber dafür, dass wir uns unserer produktiven Unruhe stellen, statt uns in irgendeinen Wunschtraum zu verrennen, oder unsere Unruhe einfach wegzuarbeiten. Wir sollten uns wieder auf unsere eigene Stärke besinnen! Eine schöpferische Stärke, die jedoch sehr mühselig ist. Das ständige in Zweifel ziehen, das ständige Träumen und Umträumen ist zutiefst anstrengend. Das ist vielleicht unser Los: diese ungeheure Sensibilität, dieses kreative  Moment, immer wieder zu forschen und zu suchen. Im positiven Sinne ein deutscher Sonderweg.

Welche Schicht oder Berufsgruppe der Deutschen hat es denn therapeutisch besonders nötig?

Die größte Dringlichkeit sehe ich in der Industrie. Da gibt es die fatalsten Wirkungen, nämlich eine Unruhe und Leistungsspirale, die in letzter Konsequenz selbstzerstörerisch ist. Durch den permanenten Leistungsdruck sabotiert man die schöpferischen Ressourcen. Viele Konzerne sind dann nicht mehr in der Lage Innovationen oder kreative Entwicklungen hervorzubringen. Sie können die zukaufen, aber dann müssen sie immer stärker über das Controlling die Kosten senken oder Druck auf ihre Mitarbeiter ausüben. Dadurch geraten wir in eine ruinöse Abwärtsspirale, durch die der Druck weiter erhöht und die Kreativität weiter ausgehöhlt wird. Viele Mittelständler sagen, wir machen mit dieser Spirale nicht mit und schaffen ein anderes Arbeitsklima. Die vertrauen darauf, dass daraus schöpferische Innovationen erwachsen.

Also Controller auf die Couch?

Controlling ist wichtig. Aber eben nur als Kontrollinstanz, die etwas im Blick behalten soll. Im Moment setzen wir nicht mehr auf Kreativität sondern auf Kostenkontrolle. Das ist auch eine Fluchtbewegung. Die Deutschen fliehen in eine abstrakte Welt, in der alles kontrollierbar ist. Aber dann erstarren sie und vertrocknen an ihren eigenen Abstraktionen.

Solch eine politische Psychologie, wie Sie sie betreiben, ist heute eher selten, oder?

Die Psychologie legt sich selbst still, wenn sie nur noch versucht zu messen und nicht zu verstehen. Eine verstehende Psychologie ist am Ende immer auch politisch.

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