Roland Paulsen über Nichtarbeit Wenn Nichtstun zur Arbeit wird

Roland Paulsen erforscht "leere Arbeit". Der Sozialwissenschaftler sprach mit Menschen, die dafür bezahlt werden, nichts zu tun. Auf den Spuren einer großen Illusion.   

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Hier machen die meisten Arbeitnehmer blau
Die gute Nachricht vorweg: Die Arbeit zu schwänzen kommt für viele Bundesbürger nicht in Frage. Das geht aus einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts GfK für die „Welt am Sonntag“ hervor. Demnach gaben fast 50 Prozent der Befragten an, noch nie blaugemacht zu haben. Bei 36 Prozent sei das letzte Mal länger als ein Jahr her. Quelle: obs
Dabei scheint das Pflichtbewusstsein in Ostdeutschland noch ausgeprägter als im Westen: Während in Ostdeutschland 44 Prozent der Befragten angaben, sie hätten schon einmal blaugemacht, liegt diese Quote im Westen bei 53,4 Prozent. Unterm Strich zeigt sich laut GfK-Meinungsforscher Klaus Hilbinger aber, „dass Deutschland über alle Regionen und Befragungsgruppen hinweg kein Land der Blaumacher ist“. Quelle: dpa
Die meisten Blaumacher leben allerdings in Berlin: 63,8 Prozent der Befragten aus Berlin gaben zu, schon einmal die Arbeit geschwänzt zu haben. Knapp dahinter folgt Schleswig-Holstein mit 63,6 Prozent Drückebergern und Hessen mit 58 Prozent. Quelle: dpa
Am zuverlässigsten sind dagegen die Einwohner Brandenburgs: Hier schwänzen nur 24,6 Prozent der Angestellten die Arbeit. Auf Platz zwei folgen die Sachsen mit 34,6 Prozent und die Bremer mit 40,3 Prozent. Quelle: dpa
Besonders pflichtbewusst sind die Beamten: Fast 60 Prozent der Staatsdiener haben noch nie blaugemacht. Quelle: dpa
Die Ergebnisse zeigen dem Bericht zufolge auch: Je älter die Befragten, desto seltener haben sie schon einmal die Arbeit geschwänzt. 49,5 Prozent der 50- bis 59-Jährigen gab sogar an, noch nie blaugemacht zu haben. Bei den 20- bis 29-Jährigen sind es dagegen 74,1 Prozent, die sich nach eigenen Angaben schon einmal eigenmächtig freigenommen haben. Quelle: dpa
Und auch bei den Geschlechtern gibt es Unterschiede: So gaben 54,4 Prozent der Frauen an, noch nie die Arbeit geschwänzt zu haben. Bei den Männern waren es nur 41,9 Prozent. Quelle: dpa

WirtschaftsWoche: Nicht nur in Deutschland wird derzeit viel über Stress, Burnout und die Verdichtung der Arbeit geforscht und diskutiert. Sie dagegen berichten in Ihrem Buch “Empty Labour” von Angestellten, die sich am Arbeitsplatz mit privaten Dingen beschäftigen. Wie passt das zusammen?

Roland Paulsen Quelle: Presse

Paulsen: Generell erleben wir durchaus eine Verdichtung der Arbeit. Angestellte sollen immer mehr in immer kürzerer Zeit erreichen. Aber es betrifft nicht alle. Lohnarbeit ist eben eine ungleiche Einrichtung. Ungleich, was die Bezahlung angeht. Ungleich, was die Sicherheit des Arbeitsplatzes angeht. Und auch sehr ungleich, was den Stress angeht. Oft haben gerade die am schlechtesten Bezahlten mehr und mehr zu tun, ohne auch nur fünf Minuten Pause machen zu können. Andere können ziemlich müßig sein bei der Arbeit.

Also ist Nichtarbeit ein Phänomen der hochbezahlten Angestellten?

Es gibt noch nicht genug Einzelstudien, um das wirklich beantworten zu können. Was aus meiner Sicht jedoch klar ist: Ich habe Angestellte interviewt, die etwa die Hälfte ihrer Arbeitszeit mit Privatangelegenheiten verbrachten. Natürlich sind das Extremfälle, die man nicht generalisieren kann. Aber die meisten von ihnen waren Büroangestellte mit Hochschulabschlüssen und einem gewissen Grad von Autonomie bei der Arbeit. Die meisten gehörten zu ziemlich privilegierten Gruppen der Arbeitswelt.

Ein Arbeiter an einer Maschine hat keine Chance, sich zu drücken?

Nein, weil seine Arbeitsprozesse standardisiert sind. Und vor allem sehr stark überwacht. Um nicht zu arbeiten, braucht man Autonomie. Und vor allem braucht man einen Wissensvorteil. Man muss Expertise glaubhaft machen können.

Demnach wären Anstrengung und Leistung keine Voraussetzungen für den persönlichen Erfolg in einer Organisation?

So weitgehend kann man das nicht unbedingt behaupten. Klar ist: Wir arbeiten alle für Prüfungssysteme. Es kommt darauf an, wie die unsere Arbeit messen und bewerten. Diesen Verfahren zu entsprechen, ist entscheidender, als objektiv etwas zu leisten. Doch normalerweise gibt es immerhin einen Zusammenhang zwischen diesen Bewertungen und der tatsächlichen Leistung.

Buchcover

Könnte für viele Drückeberger die Simulation nicht mindestens genauso stressend sein wie richtige Arbeit?

Solche Fälle gibt es. Dieses Phänomen bezeichnet der Begriff „Bore-out“. Ein Zustand der völligen Apathie und Langeweile. Am Anfang eines Jobs kann es nett sein zu merken, dass du nicht viel zu tun brauchst. Doch allmählich, wenn du keine kreative Beschäftigung während der leeren Arbeitsstunden hast, fängt dich die Langeweile ein. Und dann kann es schwierig werden, neue Aufgaben zu verlangen.

Das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis meines Buches: Wenn du zugibst, dass du wenig zu tun hast, gibst du auch zu, wie wenig du bisher getan hast. Deswegen wird es schwieriger, aus diesem Zustand herauszukommen, je länger er andauert. Da kommt dann die Scham mit ins Spiel. Und die Angst, dass dein Job auf eine Teilzeitstelle eingeschmolzen wird. Diese Angst ist begründet: Ich habe einen Bankangestellten interviewt, der für ein Projekt zuständig war, für das er nur 15 Minuten am Tag effektiv arbeiten musste. Das fand er bald gar nicht mehr lustig. Also informierte er ganz offen seinen Chef. Für diese Offenheit wurde er belohnt, indem seine Stelle halbiert wurde. Am Arbeitsplatz sind wir Teil einer Machtbeziehung. Wenn wir offen kommunizieren, können wir unseren Job verlieren.

Leben in einer völligen Illusion

Umfragen, die Sie zitieren, zeigen, dass der durchschnittliche Angestellte zwischen anderthalb und drei Stunden täglich am Arbeitsplatz mit privaten Angelegenheiten beschäftigt ist. „Leere Arbeit“ scheint bis zu einem gewissen Grad also unvermeidlich und völlig normal zu sein. Ist es daher vernünftig, wenn manche Firmen ganz offiziell die private Nutzung der Computer und Telefone gestatten?

Das ist für alle Seiten eine gute Entscheidung. Natürlich gilt das nur für hochprivilegierte Wissensarbeiter. Sie können wirklich profitieren von solchen frei gewählten Pausen. Mein generelleres Argument ist, dass leere Arbeit analysiert werden sollte im Lichte der enormen Produktivitätsgewinne. In Schweden und allen anderen entwickelten Volkswirtschaften hat die Produktivität sich seit den 1970er Jahren mehr als verdoppelt dank neuer Techniken. Und dennoch arbeiten wir heute mehr als damals.

Zehn Tipps für mehr Produktivität
1. Tierfotos aufhängen…Klingt skurril, funktioniert aber tatsächlich. Davon ist zumindest Hiroshi Nittono von der Universität Hiroshima überzeugt. Für seine Studie im vergangenen Jahr teilte er 132 Freiwillige in zwei Gruppen. Gruppe A blickte zunächst auf Fotos verschiedener Kleintiere, darunter Hundewelpen und Katzenbabys. Gruppe B sah zwar ebenfalls Bilder von Tieren, allerdings von ausgewachsenen. Nun absolvierten alle Probanden unterschiedliche Geschicklichkeitsspiele. Und siehe da: In allen drei Experimenten schnitten jene am besten ab, die zuvor die Tierbabys angeschaut hatten. Nittono glaubt: Beim Anblick niedlicher Tiere wird uns sprichwörtlich warm ums Herz. Und dieses Gefühl kann offenbar auch unsere geistigen Fähigkeiten steigern – zumindest kurzfristig. Quelle: REUTERS
2… oder einen echten Hund anschaffenVorausgesetzt natürlich, der Arbeitgeber stimmt zu. Doch mit ziemlicher Sicherheit werden es ihm die Angestellten mit mehr Leistung danken. Zu diesem Ergebnis kam auch eine Studie, über den der britische „Economist” vor einigen Jahren berichtete. Darin sollten sich die Freiwilligen zum Beispiel Ideen für einen Werbespot ausdenken. Bei manchen hatte es sich unter dem Konferenztisch ein Hund gemütlich gemacht – und genau jene Probanden waren am kreativsten. Außerdem fühlten sie sich auch am wohlsten. Quelle: dpa
Geschenke verteilenHöhere Löhne? Boni für besondere Leistungen? Alles schön und gut – aber kleine Geschenke helfen viel mehr. Das glaubt etwa Sebastian Kube, Verhaltensökonom an der Universität Bonn. In seiner Studie sollten im Jahr 2011 48 Studenten drei Stunden lang die Bücher einer Bibliothek katalogisieren – für zwölf Euro Stundenlohn. Doch Gruppe A gestattete Kube im Verlauf des Experiments eine Gehaltserhöhung von 20 Prozent. Gruppe B schenkte er einen Gutschein für eine Thermoskanne im Wert von sieben Euro. Kaum zu glauben: Die Lohnerhöhung brachte gar nichts. Wirksam war hingegen der Gutschein: Er steigerte die Produktivität im Schnitt um 30 Prozent. Kube erklärt sich dieses Ergebnis mit dem so genannten Reziprozitäts-Effekt. Vereinfacht gesagt: Wer uns etwas schenkt, dem fühlen wir uns anschließend verpflichtet. Wer von seinem Unternehmen also ein Geschenk erhält, erhöht im Anschluss sein Engagement. Quelle: Fotolia
4. Im Internet surfenNoch immer soll es Unternehmen geben, die ihren Angestellten verbieten, während der Arbeit privat im Netz herumzusurfen – ein großer Fehler. Das zumindest legt eine Studie aus dem Jahr 2011 nahe. Don Chen und Vivien Lim von der Nationaluniversität von Singapur reichten 96 Studenten einen Text mit einer Länge von 3500 Wörtern. Darin sollten sie 20 Minuten lang jedes „E“ markieren – eine zugegebenermaßen stupide Aufgabe. Dann teilten die Wissenschaftler die Probanden in drei Gruppen. Die einen mussten eine zehnminütige Zusatzaufgabe lösen, die anderen konnten entspannen, wieder andere durften im Internet herumsurfen. Jetzt bekamen alle einen 2000 Wörter langen Text, in dem sie jedes „A“ kennzeichnen sollten. Wer sich am besten schlug? Jene Gruppe, die zuvor im Netz herumgesurft war. Offenbar sorgte Surfen für Entspannung und lud den geistigen Akku am besten auf. Quelle: Reuters
5. Mit Kollegen tratschenDie Psychologin Kathryn Waddington von der Universität von London befragte für ihre Studie im Jahr 2005 knapp 100 Krankenschwestern und –pfleger. Ergebnis: Ein kurzer Plausch in der Kaffeeküche oder in der Raucherecke war für die meisten eine gute Gelegenheit, um Frust und Freude zu teilen – und sich letztendlich wieder besser auf die Arbeit zu konzentrieren. Quelle: Fotolia
6. Musik hörenMusik hat durchaus magische Kräfte. Das konnte 2008 auch Costas Karageorghis von der Brunel-Universität in London nachweisen. 30 Freiwillige strampelten sich auf einem Laufband ab und lauschten währenddessen unterschiedlicher Musik. Und siehe da: Liefen die Freiwilligen zu einem Rhythmus von 120 bis 150 Pulsschlägen pro Minute, brachten sie bis zu 15 Prozent mehr Leistung – und fanden das Training außerdem weniger anstrengend. Quelle: dpa
7. Pflanzen mitbringenEin norwegisch-amerikanisches Forscherteam um Ruth Raanaas ließ für eine Studie im Jahr 2011 34 Studenten verschiedene Aufgaben lösen. Die eine Hälfte war derweil von Blumen und Pflanzen umgeben, die andere nicht. Mehrmals testete Raanaas die Aufnahmefähigkeit und Konzentration der Probanden – und stellte fest: Die Blumen-Gruppe schnitt jedes Mal besser ab. Offenbar steigerte die Flora die geistigen Fähigkeiten. Quelle: dpa

Also sind wir Opfer einer großen Illusion. Wir glauben immer mehr arbeiten zu müssen, obwohl wir eigentlich viel früher nachhause gehen könnten, um mehr Zeit mit der Familie oder wirklich interessanten Dingen zu verbringen, statt so zu tun als arbeiteten wir.

Ja. Es ist eine völlige Illusion. Unsere Politiker haben diesen Drang, immer neue Jobs zu schaffen. Und das liegt nicht daran, dass es wirklich mehr zu tun gäbe. Sondern weil Jobs den Wohlstand verteilen, den wir haben. Im Effekt wird immer mehr Arbeit unproduktiv. Man kann bei vielen Jobs nicht mehr wirklich erkennen, welche Bedürfnisse sie befriedigen. Arbeit wird also auch leer in dem Sinne, dass sie nichts mehr mit Produktion zu tun hat.

Ist es überhaupt möglich, so zu arbeiten, wie sich das der Arbeitgeber vorstellt? Jederzeit voll konzentriert?

Natürlich nicht. Das ist unmöglich. Man braucht Pausen und Entspannung zwischendurch. Deswegen kann man einen Teil des Stillstands auch dadurch rechtfertigen, dass er letztlich der Produktivität dient. Aber wenn man die Hälfte seiner Arbeitszeit mit Nichtarbeit verbringt, dann hat das mit Erholung nichts mehr zu tun.

Können Sie jungen Menschen, die sich vor Arbeit drücken wollen, einen Tipp geben, welchen Beruf sie wählen sollten?

Ich habe zum Beispiel einen Texter einer Werbeagentur interviewt, der die meiste Zeit mit seinem privaten Blog beschäftigt war. Er meinte, es sei für seinen Arbeitgeber unmöglich festzustellen, wie lange er dafür brauche, einen Werbetext zu schreiben. Es kommt also darauf an, irgendeine ungewöhnliche Leistung vollbringen zu können, die von außen nicht messbar ist. Ich habe auch Webdesigner interviewt, denen es gelingt, spät zu kommen und früh zu gehen. Auch einen Archivar und einen Floristen. Es war auch ein Gebäudereiniger dabei, der sehr ausgedehnte Kaffeepausen macht. Aber die meisten waren ziemlich gut ausgebildet, so dass sie eine Aura der Expertise entwickeln können.

Wissenschaftler und Künstler, vielleicht auch Journalisten, gelten als besonders hoch motiviert. Gibt es Drückebergerei auch an Universitäten?

Wahrscheinlich. Aber die meisten von uns Wissenschaftlern sind so arrogant zu behaupten, dass wir immer arbeiten. Auch wenn wir zuhause vorm Fernseher sitzen, behaupten wir, das gehöre zu unserer Forschung. Darum habe ich keine Wissenschaftler interviewt. Auch keine Unternehmer und keine Journalisten.

Haben Sie denn selbst schon mal so getan, als ob Sie arbeiteten?

Ja klar. Die Idee zu dem Buch kam mir als Student. Ich war Fahrkartenschaffner für die U-Bahn von Stockholm und wurde immer nachts eingesetzt. Es gab Nächte, da hatte ich überhaupt nichts zu tun und saß nur herum. Ich war natürlich froh, weil ich Bücher lesen konnte. Doch ich stellte mir die Frage: Wie ist es möglich, dass ich dafür bezahlt werde, nichts zu tun?

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