




Vor einigen Jahren beobachtete ich auf dem Parkplatz einer neurologischen Rehaklinik eine Rollstuhlfahrerin: Ihr Kopf ist kahl rasiert und zeigt eine große Narbe von einem Ohr zum anderen. Unvermittelt steht sie ziemlich wacklig aus dem Rollstuhl auf, hangelt sich an der Lehne entlang, um den Stuhl herum bis zu den schwarzen Griffen und bleibt einen Moment so stehen. Plötzlich stößt sie den Rollstuhl einige Meter von sich weg und humpelt ihm in schweren Schritten nach. Als sie ihn erreicht, hält sie sich einen Moment lang daran fest, um ihn erneut wegzustoßen. Und das wieder und wieder. Wieder und wieder. Die Anstrengung war ihr anzusehen.
Helden nehmen Schmerzen und Anstrengung auf sich
"Heldenhaft" würde der Psychologe Hans Reinecker dieses selbstdisziplinierte Verhalten nennen, denn "heldenhaftes Verhalten", liegt vor, so Reinecker, wenn wir uns kurzfristig für ein Verhalten entscheiden, dass wir eigentlich ablehnen (aversives Verhalten) - weil es z.B. anstrengend, traurig oder schmerzhaft ist. Das ist die eine Chance, Selbstdisziplin zu zeigen: Man tut es trotzdem. Die andere ist etwas einfacher: Wir verzichten auf etwas Verlockendes, arbeiten beispielsweise, statt mit Freunden Pizza essen zu gehen. "Widerstehen einer Versuchung" nennt Reinecker diesen Fall. Klingt beides anstrengend. Warum also sollten wir uns so unter Druck setzen und heldenhaft sein oder einer Versuchung widerstehen?
Weil beide Verhaltensmuster langfristig wichtige positive Konsequenzen für uns haben: Wir laden den schwierigen Mitarbeiter zum Gespräch ein, gehen zur unangenehmen Vorsorgeuntersuchung, lernen die staubtrockenen Inhalte, oder verzichten auf die Pizza, weil wir langfristig ein funktionierendes Team, einen gesunden Körper oder schlauen Kopf wollen. Und ziehen so die Zukunft in die Gegenwart.
Selbstdisziplinierte Menschen sind demnach oft durch ihre Willenskraft in der Lage, verlockende, zerstreuende, ablehnende innere oder äußere Reize auszublenden und sich stark auf das zu fokussieren, was sie tun wollen oder gerade tun; sie sind kaum ablenkbar und bleiben zielfokussiert. Mit diesem Verhalten, so Dutzende von Studien, räumen sie ab:
Selbstdisziplinierte verdienen mehr, finden die besseren Arbeitsplätze, sind mit ihrem Job und ihrer Partnerschaft zufriedener und haben eine geringere Wahrscheinlichkeit, dick zu werden. Selbstdisziplin sagt den Lebensweg stärker vorher als der IQ und gilt für individuellen Erfolg als die Schlüsseldisziplin.





Sprunghafte, kaum Zielorientierte sind hingegen reizoffen für Zerstreuungen durch Gedanken, Personen oder Aktivitäten die gerade auftauchen und kurzfristigen Spaß versprechen. Auf Außenstehende wirkt das vielleicht hedonistisch-leicht, der Betroffene selbst aber, wird von der Aufgabe und seinen langfristigen Zielen weggeführt. Denn, so ein Spruch in den sozialen Netzwerken: "Nichts, was sich wirklich lohnt, ist leicht".
Dennoch geht es nicht darum, ein Leben in ständiger Selbstbeherrschung zu führen, denn das wäre öde und genauso selbstzerstörerisch, wie ein Leben ohne jede Selbstbeherrschung. Es geht nur darum, in jenen Bereichen willensstark zu sein, die uns tatsächlich für die eigene Entwicklung wichtig sind.
Hinweise aus der Volitionsforschung: So stärken Sie Ihre Willenskraft
Wir sollten uns selbst klare Handlungsanweisungen geben, denn Selbstinstruktionen helfen oft. Neuere Forschungsbefunde legen nahe, dass es auch in Selbstgesprächen motivierender ist, uns selbst nicht zu ichzen, sondern zu duzen, also: "Du bleibst jetzt hier sitzen, bis der Text fertig ist!".
Finde den Bereich, der für die eigenen Ziele und Entwicklungen die stärksten positiven Effekte hätte: Was würde in deinem Leben wirklich einen Unterschied machen? Körperlich fit sein, mehr Freunde haben, kein Junkfood essen, höhere Umsätze, eine Fremdsprache lernen, bessere Präsentationen oder die fertige Doktorarbeit? Was würde wirklich einen wichtigen Unterschied machen?
Trainiere deine Willenskraft genau in diesem Bereich und in kleinen Schritten: Heute mache ich eine einzige Übung mehr, laufe die eine Runde mehr, obwohl es leichter wäre, eine weniger zu laufen; stehe 10 Minuten früher auf, obwohl ich lieber länger schlafe; stehe nicht eher vom Schreibtisch auf, bis ich diese Seite vollgeschrieben habe, obwohl ich jetzt Kaffeedurst habe; lese den ganzen Text zu Ende obwohl ich jetzt lieber im Netz surfen würde; übe diese Präsentation nicht zwei, sondern dreimal, obwohl... Das eine Mal mehr macht hier den Unterschied. Willenskraft funktioniert wie ein Muskel: Das kleine Bisschen Mehr an Selbstherausforderung macht willensstärker.
Verlockungen umwandeln, abstrakter machen oder abwerten: "Pizza besteht aus Hefe, Fett und toten Tieren". Oder wenn das Surfen im Internet das Problem ist, hilft vielleicht ein klares: "Surfen bringt mich kein Stück weiter!" oder "Der Mitbewerber surft gerade nicht - was macht er dann?". Und in Bezug auf Reichtum fällt mir ein Gespräch mit einem millionenschweren Unternehmer ein. Sein Trick wäre, sich bei jeder Preisverhandlung oder Kaufentscheidung zu sagen: "Es gibt keine einmaligen Gelegenheiten!"
Uns die späteren positiven Konsequenzen lebhaft und farbig vorstellen: "Meine alten Eltern werden vor Freude weinen, wenn ich ihnen meine Doktorarbeit mitbringe!". "Wie schön wird es sein, wenn ich fit durch die Sonne renne!". "Meine Frau wird mit leuchtenden Augen sagen: 'Ich bin stolz auf dich!'".
Willenskraft ist also oft die Kraft gegen das "obwohl". Blöd ist nur, dass die kurzfristigen Impulse ("obwohl") im limbischem System erfolgen und die Reflexion über langfristige Konsequenzen primär im Frontallappen. Und das limbische System sendet spontane Impulse, was bedeutet, dass uns die kurzfristige Versuchung oft näherliegt, als die langfristige positive Konsequenz: Mental schiebt sich die Pizza vor den fitten Body. "Mister Marshmallow", der renommierte Selbstdisziplinforscher Walter Mischel, spricht deshalb von einem Hot System (kurzfristiger Impuls) und einem Cold System (langfristige Ziele) und fand heraus, dass unser Geist dazu tendiert, die schnelle Belohnung überzubewerten, während wir das langfristige Ziel herabsetzen.
Mischel rät daher dazu, dass verführerisches „Jetzt“ abzukühlen und das spätere Ziel zu erhitzen. Und bei den heftigen, heldenhaften Handlungen? Da können wir entsprechend verfahren: Die Anstrengung in unserer Vorstellung verringern ("leicht, leicht, federleicht") und den späteren Lohn ausmalen: Wie schön wird es sein, wenn ich ... Und schließlich ist die menschliche Willenskraft oft kraftvoller als wir für möglich halten.