Die Werkstatt wirkt wie aus der Zeit gefallen. Unter der Holzdecke hängen Rahmen mit korrodierten Rohren und Muffen. Die Zahnkränze sind abgenutzt, die Kabel lottern. Von ihrer einstigen Funktion und Schönheit ist nicht viel geblieben. Beides schenkt ihnen Senad Sarac zurück. Der ehemalige Radprofi ist ein passionierter Radrestaurator. Sarac macht in seiner Hamburger Werkstatt bewegliche Teile wieder gangbar, richtet Felgen aus, fixiert lose Verbindungen und zieht neue Reifen auf. Am Ende stehen die alten Räder da in neuer Blüte: elegante Zeugen einer vergangenen Epoche, mehr zum entspannten Gleiten geeignet denn zum rastlosen Rasen. Sie tragen herrliche Namen: Adler, Göricke, Sparta.
Und sie haben eine, nun ja: Authentizität, die auf ihre Besitzer abstrahlen soll: „Meine Kunden wollen ein Unikat“, sagt Sarac.
Sarac weiß: Wer heute ein Fahrrad kauft, erwirbt nicht nur ein Fortbewegungsmittel, sondern auch ein Image, das die Persönlichkeit seines Besitzers unterstreicht. Das Rad soll Auskunft geben über des Käufers Lifestyle, seine Haltung, seine Stellung in der Welt. Wichtiger als Fahreigenschaften und als technische Ausstattung ist, dass das Rad den Charakter seines Fahrers adelt. Dafür zieht das Zweirad auch mit in die Wohnung, dafür lässt es sich als Einrichtungsmöbel und Wandschmuck verehren. Das Zweirad soll als Partner stets zugegen sein, sichtbar für den Eigentümer und seine Besucher: ein Dekorations- und Lustobjekt – ein Fetisch großstädtischer Demonstrativkonsumenten.
Allein 64 schicke Modelle hat der Blog itallstartedwithafight zuletzt zur Wahl der schönsten Wandhalterung fürs Wohnzimmer-Rad ins Rennen geschickt. Der stets unkonventionell planende Möbelhersteller Moormann hat eine Insellösung für Zimmer geschaffen: Einen Block, auf dem oben das Bett thront und die Fläche darunter als Schrank nutzt - inklusive offener Aufhängung für ein Rad - vorzugsweise mit Stahlrahmen, wie das Produktfoto es zeigt.
Natürlich hat auch die Werbung das vom Kellerkind zum Loft-Star avancierte Rad als Symbol für urbane Lässigkeit und ökotrendigen Besitzindividualismus entdeckt. In seiner aktuellen Kampagne lässt das Modelabel Gucci einen Puma um einen jungen Mann streifen, der im Gesicht umfassend tätowiert ist, einen rosa Pullover und eine gelbe Art Fliege trägt. Das Model sitzt auf einem hellblauen Stahlrennrad, wie sie in den Achtzigerjahren produziert wurden. Alles in diesem Bild symbolisiert den letzten Modeschrei: retromoderne Metrosexualität.
Vor Jahren war es noch das Tenorsaxofon, das der Werbung zur Andeutung eines modernen Lebensstils diente: Jazz gleich Improvisation und Freiheit! Heute feiern besonders die edelschlichten Radmodelle mit einem einfachen Zahnrad an der Hinterachse den Sinn für die Moderne und die puristische Form. Ganz gleich, ob Gucci, die Zigarettenmarke Gauloises oder Hersteller luxuriöser Wohnzimmermöbel zwischen den Betonwänden moderner Living-Rooms: Sie alle inszenieren eine aufs Minimum reduzierte Version des Fahrrades: Reifen, Rahmen, Lenker, Kette.
Als Karl Friedrich Christian Ludwig Freiherr Drais von Sauerbronn vor knapp 200 Jahren, am 12. Juni 1817, auf der von ihm entworfenen Laufmaschine zur ersten Zweiradfahrt der Weltgeschichte aufbrach, konnte er nicht ahnen, welcher Entwicklung er den Boden bereitete. Mit einer Geschwindigkeit von etwa 15 Kilometern pro Stunde bewegte er die mehr als 22 Kilogramm schwere Holzmaschine von seinem Wohnort in Mannheim ins sieben Kilometer entfernte Schwetzingen. Bequem kann das nicht gewesen sein. Weder Luftbereifung noch Federung dämpften die Stöße des holprigen Bodenbelags.
Ein Statement war es gleichwohl. Denn Drais legte damals das zentrale, keineswegs selbstverständliche Prinzip des Zweiradantriebs fest: Der Fahrer muss das Rad in der Balance halten – und das Radeln erlernen. Während die meisten Kinder heute auf Laufrädern aus Holz (oder auch Schwarzmetallic-Stahl mit goldenen Felgen) spielerisch ihren Gleichgewichtssinn trainieren, mussten Anfang des 19. Jahrhunderts Erwachsene in Fahrschulen lernen, oben zu bleiben. Umso mehr, als Drais’ Laufmaschine sich zum Veloziped weiterentwickelte, zu einem Zweirad mit Kurbeln und Pedalen an einem großen Vorderrad, bei dem der Fahrer weit über dem Boden saß und entsprechend tief fallen konnte.
Immerhin: Der Hochsitz des Velozipeds war in der Kaiserzeit zugleich auch Sinnbild eines gehobenen Lebensstils: Ein Facharbeiter musste 1870 noch sieben Monatslöhne hinblättern, um eines zu erwerben.
Maßgeschneiderte Zweiräder
Die ersten Käufer ließen die in Werkstätten gefertigten Zweiräder oft maßschneidern; in vielen Städten bildeten sich elitäre Rad-Clubs: Das Veloziped reüssierte als Distinktionsmerkmal. In England schuf der Wagenbauer Denis Johnson das Pedestrian Curricle, das als hobby horse oder dandy horse bezeichnet wurde. Kurzum: Der Dandyismus umarmte damals die Möglichkeit, sich mit dem Veloziped von der Masse abzuheben. Er war in der Verknüpfung von modischer Kleiderwahl und avantgardistischem Transportmittel ein Vorbild für das, was dem heutigen Hipster sein Fixie ist.
Fixie, das kommt von fixed gear und steht für die starre Achse, die New Yorker Radkuriere nutzen, um sich mit schmal gesägten Lenkern durch den Autostau zu schlängeln. Gebremst wird beim Fixie allein durch die Rückwärtsbewegung der Pedale (kein Rücktritt!): Rollt das Rad, drehen die Pedale automatisch mit. Die alltagstauglichere, modische Version ist das Singlespeed, das hippe Ein-Gang-Fahrrad (mit Rücktritt und/oder Handbremse), das heute bevorzugte Fortbewegungsmittel von Großstadtbewohnern.
Die Kultur des Fixies mit seinem schlichten schlanken Stahlrohrrahmen ist so erfolgreich, dass auch moderne E-Bikes für mehrere Tausend Euro sich auf sein Design beziehen. Optische Reduktion mit elektrischem Doping – das ist die postmoderne Welt des Fahrrades, der Code für urbane Unabhängigkeit: Tatsächlich beugen sich heute Menschen in Straßenkleidung auf dem Weg zur Arbeit tief in den Untergriff wie einst Eddy Merckx, der Kannibale aus Belgien, wenn er auf den Zielkilometern einer Tour-de-France-Etappe seine Gegner vernichtete.
Warum aber ist das Fahrrad zur Ikone der Metropolenmoderne geworden? Weil Autos nicht mehr Schnelligkeit und Fortschritt, sondern Stau und Stillstand versinnbildlichen? „Es ist jedenfalls nicht die Werbung, die versucht, einen Gegenstand zu pushen“, sagt Rüdiger Goetz von der Designagentur kw43, die zwei deutsche Mountainbike-Produzenten betreut, sondern umgekehrt: „Die Werbung ist nur der Spiegel eines gesellschaftlichen Trends.“
Aber was ist es dann? Das Rad wird schließlich nicht nur als emissionsfreier mobiler Musterknabe gefeiert, sondern steht auch in der Kritik, vor allem seit Renn- und E-Biker dem Radeln alle Gemütlichkeit geraubt haben. Einerseits hat die Bewegung der Critical Mass, die mit Radkolonnen für die Rechte von Radfahrern demonstriert, viele Teile der westlichen Welt erobert: Städte wie Kopenhagen sind Vorreiter bei der Förderung des radkonzentrierten Innenstadt-Verkehrs. Andererseits gerät das Fahrrad neuerdings als Gefährt rücksichtsloser Rüpel in Verruf.
Neuerdings? Nun, tatsächlich erteilten die Behörden in Deutschland erste Fahrverbote schon im 19. Jahrhundert. Im New Yorker Central Park waren zwischenzeitlich Hochräder verboten. Kutschfahrer bekämpften Radler. Vielleicht hat es seinen guten Grund, dass das Fahrrad heute zunehmend viel Zeit in deutschen Wohnzimmern verbringt?
Senad Sarac jedoch möchte mit den Unikaten seiner Marke Le Vélo keine Museumsstücke bauen. Er verlegt Kabel in alte Rohre für moderne LEDs in historischen Leuchten und erzählt davon, dass er bei Bedarf auch Akkus einbaut, damit seine Kunden auf dem Rad ihr Smartphone laden können. „Ich baue die Fahrräder für die Straße“, sagt Sarac, „und nicht fürs Museum."