Alexander Schmidt „Lampenfieber wird nach wie vor tabuisiert“

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Grundlegende Bausteine der Therapie

Was erwarten Ihre Patienten und was empfehlen Sie ihnen?
Die Patienten wollen ihre massiven Ängste loswerden. Und was die Empfehlungen angeht, so kommt es immer darauf an, in welchem Entwicklungsstadium der Betreffende sich befindet. Ob er ein Anfänger oder ein Profi ist, der schon alles Mögliche probiert hat. Gleichwohl, es gibt Bausteine der Therapie, die jedem weiterhelfen. Dazu gehört die optimale Vorbereitung am Tag des Auftritts, und dazu gehören angstdämpfende Entspannungsverfahren, die man täglich anwenden sollte: Atemtechniken, Muskelrelaxation oder autogenes Training. Und was am Wichtigsten ist: dass man sich seinen Ängsten stellt, dass man lernt, mit ihnen umzugehen und sie als Teil der musikalischen Ausbildung versteht.

Was sagen Sie dem gestandenen Orchestermusiker, der mit Auftrittsangst zu Ihnen kommt?
Dass es bei unkontrollierbarem, unerträglichem Zittern immer noch die Möglichkeit der medikamentösen Intervention durch Betablocker gibt. Sie enthalten den blutdrucksenkenden Wirkstoff Propranolol und wirken beruhigend auf Tremor-Attacken. Wir bieten sie ergänzend zu den genannten Entspannungstechniken und zu Psychotherapien an.

Seit Mai dieses Jahres untersuchen Sie in einer auf zwei Jahre angelegten Studie die angstlösende Wirkung körperlicher Bewegung. Sport als Mittel der Stressminderung?
Ja, unsere Kollegen von der Psychiatrie haben damit gute Erfahrungen bei der Behandlung so genannter generalisierter Angststörungen gemacht, aber auch bei Patienten, die panikartige Angst vor Zahnarztbesuchen haben. Ein spezielles, sportmedizinisch ausgearbeitetes Trainingsprogramm hat nachweislich zu anhaltenden Effekten von Angstreduktion geführt, gerade so, als sei ein Psychopharmakon eingenommen worden. Offenbar führt der gezielte Einsatz von Sport dazu, dass mit Angst assoziierte Neurotransmitter im Gehirn weniger stark ausgeschüttet werden. Das wollen wir uns zunutze machen bei der Behandlung von Musikern mit Auftrittsangst.

Wie gehen Sie vor?
Wir setzen betroffene Musiker, die sich für die Studie bei uns gemeldet haben, einer prüfungsähnlichen Auftrittssituation aus. Da geht es zu, wie bei einem Probespiel vor einer Jury, als würde man sich um eine Orchesterstelle bewerben, nur dass wir den Auftritt neuromedizinisch kontrollieren. Danach absolvieren die Probanden ihr sportliches Trainingsprogramm, um dann ein zweites Mal vorzuspielen, wobei wir wieder Hormone, Herzfrequenz und andere Körpersymptome systematisch registrieren. Wir hoffen, dass wir mit einem individuell abgestimmten Sportprogramm kurzfristig zur Minderung von Auftrittsängsten beitragen können.

Es geht um eine Art Akut-Behandlung?
Genau. Wir wollen Menschen etwas anbieten, die in drei, vier Wochen einen wichtigen Auftritt haben. Das ist hochrelevant, so etwas hätte jeder gern. Vorstellbar wäre etwa eine App, die genau vorgibt, in welchem Herzfrequenz-Bereich man sich optimal beim Training bewegt. Sollten wir damit Erfolg haben, könnte uns das Hundertschaften zutreiben. Nicht nur Musiker, die händeringend nach etwas suchen, weil sie schon alles „durch“ haben, sondern auch andere Berufe, zu denen öffentliches Auftreten gehört.

Was Gesten über Sie verraten
Ein Mann verschränkt die Hände hinter dem Kopf Quelle: Fotolia.com
Vermutlich Angela Merkel mit verschränkten Händen Quelle: dpa
Eine Frau mit verschränkten Armen Quelle: Fotolia.com
Eine Frau fasst sich an den Hals Quelle: Fotolia.com
Eine Hand berührt den Ärmel am Anzug der anderen Hand Quelle: Fotolia.com
Eine Frau zeigt mit "zur Pistole" geformten Fingern auf den Betrachter Quelle: Fotolia.com
Eine Frau fasst sich an die Nase Quelle: Fotolia.com

Es gibt mehrere Studien, die zeigen, dass Aufführungs- und Versagensängste unter Musikern weit verbreitet sind. Was ist Ihre Erklärung?
Lampenfieber gehört zum Beruf des Musikers. Vergessen wir nicht, dass es etliche gibt, die davon profitieren, die gerne auf die Bühne gehen, für die das ein Lebenselixier ist. Und dann gibt es andere, die darunter leiden. Von Nicht-Musikern höre ich häufig, diese Menschen hätten eben den falschen Beruf gewählt. Aber das ist falsch. Schon deshalb, weil auch Musiker, die herausragende Leistungen bringen, zu den Lampenfieber-Opfern gehören. Wer auf höchstem Niveau musiziert, muss den ganzen Reichtum der Emotionen nachempfinden können. Er bedarf einer besonders hohen Sensibilität – und ist damit eben auch besonders anfällig für stressbedingte psychische Störungen.  

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