Alexander Schmidt „Lampenfieber wird nach wie vor tabuisiert“

Alexander Schmidt

Alexander Schmidt ist Professor an der musikermedizinischen Spezialambulanz der Berliner Charité. Er berät Patienten mit starkem Lampenfieber. Er weiß: Sowohl Top-Manager als auch Musiker können daran leiden.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

WirtschaftsWoche: Herr Professor Schmidt, in Ihrer musikermedizinischen Spezialambulanz an der Berliner Charité beraten Sie auch Patienten, die wegen starkem Lampenfieber zu Ihnen kommen. Wie viele sind das prozentual?
Herr Alexander Schmidt: Rund ein Drittel unserer Patienten hat psychische Probleme, leidet unter mentalen Belastungen. Ein Teil davon spezifisch unter Auftrittsangst, so dass wir unsere Psychiater mit einschalten.

Kostet es diese Patienten viel Überwindung, zu Ihnen zu kommen?
Ja, manche sagen: Ich trage das schon ewig mit mir herum und habe mich jetzt endlich entschieden, etwas dagegen zu tun. Und die gehören keineswegs zu den so genannten Minderleistern. Im Gegenteil: Es sind häufig sehr erfolgreiche Musiker, die in internationalen Spitzenorchestern in exponierten Positionen spielen. Die ganze Skala ist bei uns vertreten: Vom Solisten, dem ein Probespiel bevorsteht, bis zum Studenten, der sich der Abschlussprüfung noch nicht gewachsen fühlt und angesichts des Drucks sagt: Ich schaff’s jetzt nicht. Dann attestiere ich das.

Was bekommen Sie von Orchestermusikern zu hören?
Die Patienten sprechen sehr offen über störende körperliche Symptome, die genau dann auftreten, wenn man sie nicht gebrauchen kann: Der Hornist leidet unter einem Lippenflattern, gerade bei anspruchsvollen Solostellen, zum Beispiel in Bruckners IV. Sinfonie, dem Streicher zittert die Bogenhand bei lang gehaltenen Pianissimo-Stellen. Da wird das Scheitern durch negative Gedanken geradezu vorweggenommen: Was wird gleich schiefgehen? Hoffentlich macht mich der Dirigent nicht fertig? Manche Musiker haben derlei Befürchtungen nur bei bestimmten Dirigenten, die vielleicht nicht immer die freundlichsten sind.

Die Angst vorm Chef?
Ja. Und so eine Reaktion kann sich verfestigen. Bei jeder Probe, manchmal schon beim Üben zu Hause, kommt dann Angst auf. Es gibt eine große Bandbreite, die noch ungenügend erforscht und klassifiziert ist: Sie reicht von flottierender, untergründiger bis zu panikartiger Angst, bei der man die Kontrolle über den Körper verliert. Dann kommt ein sich selbst verstärkender Kreislauf der Angst in Gang: Je mehr man zittert, desto größer die Angst, und je mehr Angst, desto stärker das Zittern.

Darüber wird öffentlich kaum geredet…
…weil es nach wie vor tabuisiert ist. So gut wie jeder Künstler gibt zwar zu, dass er nervös ist vorm Auftritt, dass Lampenfieber zu seinem Beruf gehört. Aber die übersteigerte Form des Lampenfiebers, die zuweilen ins Krankhafte geht und zu depressiven Verstimmungen führt, wird nicht offen angesprochen. Aufführungsangst gilt als seelische Schwäche, als Zeichen mangelnder Belastbarkeit, die sich der Musiker eines Spitzenorchesters nicht leisten kann.

Kleine Rangliste der Ängste

Wenn der Hornist in der Carnegie Hall wiederholt kiekst, fällt das auf das ganze Orchester zurück.
So ist es. Und das kann ernsthafte Konsequenzen haben. Wer keine Höchstleistung bringt, läuft Gefahr ausgetauscht zu werden. Da stehen Karrieren auf dem Spiel.

Es wird Perfektion vom Orchestermusiker verlangt?
Ja, wobei der Druck nicht nur von den Kollegen und vom Dirigenten kommt, sondern auch vom Publikum: Die Erwartungen sind durch die digitale Verbreitung von Referenzaufnahmen enorm gestiegen: An ihrer Perfektion muss sich jedes Orchester, jeder Interpret im Hinblick auf Tempo, Artikulation oder Dynamik messen.

Was ist der Unterschied zwischen Lampenfieber und Auftrittsangst?
„Normales“ Lampenfieber führt dazu, dass vorher geübte Leistungen auf der Bühne zu einer Spitzenperformance gesteigert werden. Sobald aber die Aufregung einen kritischen Punkt überschreitet, werden die Leistungen, die man eigentlich zu zeigen in der Lage ist, wieder schlechter oder so schlecht, dass man gar nicht mehr in der Lage ist, zu performen. Sobald das regelmäßig passiert, spricht man von Auftrittsangst. Nur: Ein klares, klinisches Kriterium, das zwischen beiden Formen des Lampenfiebers unterscheidet, gibt es nicht. Zumal die Stärke des Lampenfiebers vom subjektiven Empfinden abhängt und jeder mal einen schlechten Tag hat.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%