Alkoholismus Entspannungstrinken für die Stressgesellschaft

Die meisten westlichen Nationen trinken zu viel Alkohol - häufig gegen den Stress. Der Publizist Daniel Schreiber, Autor des Buchs "Nüchtern", über die neuen Trinkgewohnheiten der Stressgesellschaft.

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Foto von einem Glas Cognac. Quelle: Fotolia

WirtschaftsWoche: Herr Schreiber, Alkoholismus ist eine Volkskrankheit, heißt es. Nach einer Erhebung der Bundeszentrale für Gesundheit sind 27 Prozent der erwachsenen Bevölkerung nicht in der Lage, ohne schwerwiegende gesundheitliche und psychische Folgen zu trinken. 27 Prozent! Ist das nicht maßlos übertrieben?

Daniel Schreiber: Auch ich war zunächst verblüfft. Jeder Vierte – da stellt man sich eine völlig dysfunktionale Gesellschaft vor. Aber wenn man genauer hinblickt, gewinnt die Zahl an Plausibilität. Wir alle kennen Menschen, die regelmäßig und vor allem zu viel trinken. Die meisten von ihnen würden niemals zugeben, an der Schwelle zum Alkoholismus zu stehen. Das ist das Grundproblem. Abhängigkeit ist eine Krankheit, die einem sagt, dass man sie nicht hat.

Zur Person

Die einem sagt: Die anderen haben ein Problem, ich selbst aber nicht...

Das auch! Unser Bild von Alkoholabhängigkeit ist immer noch bestimmt vom Trinker, der mit der Flasche auf der Parkbank hockt, der Job und Familie verloren hat – der also genauso aussieht, wie man sich einen Alkoholiker vorstellt. Doch solche Fälle machen nur einen geringen Prozentsatz der Menschen mit Alkoholproblemen aus. Die Wahrheit ist, dass die meisten von ihnen ganz normale Lebensläufe haben und völlig unauffällig durch ihren Alltag gehen. Sie gehen ihrem Beruf nach, haben Kinder, besuchen Elternabende und fahren am Wochenende aufs Land. Die längste Zeit führen sie ein Leben, das gut funktioniert und erfolgreich wirkt. Ihr Alkoholproblem verstecken sie hinter klug konstruierten Fassaden. Ich kenne sehr viele solcher Menschen. Ich war selbst einer von ihnen.

Und irgendwann bekommen diese Fassaden Risse?

Beim einen früher, beim anderen später. Wenn man abhängig ist, ist Selbsttäuschung ein sehr effektives Mittel, um vor Problemen die Augen zu verschließen. Es kann viele Jahre dauern, bis man versteht, dass einem das Trinken das Leben nicht erleichtert, sondern, im Gegenteil, jede Menge Probleme verursacht. Gerade wenn man sich mit Menschen umgibt, die genauso trinken wie man selbst. Zudem bringen viele Problemtrinker ziemlich lange genug Disziplin auf, um in einem scheinbar erträglichen Maß zu trinken. Kaum einer von uns würde sagen, dass jemand, der eine halbe Flasche Wein am Abend trinkt, ein Alkoholproblem hat. Das Robert-Koch-Institut stuft diese Art von Konsum schon als Rauschtrinken ein.

Daniel Schreiber arbeitete als Redakteur für Monopol und Cicero und ist seit 2013 wieder freier Autor. Seine Texte erscheinen u. a. in der ZEIT, dem Philosophie Magazin, der Weltkunst und der taz. Quelle: Creative Commons/Daniel Schreiber

Und – was verrät uns das?

Nicht jeder, der ein paar Gläser Wein trinkt, ist schon abhängig. Aber er kann es werden. Das Problem besteht darin, dass die Grenze zur Sucht fließend ist, dass niemand genau weiß, wann aus einer Gewohnheit eine Krankheit wird. Wäre es in meinem Fall bei einer halben Flasche Wein geblieben, dann hätte ich wahrscheinlich nie aufgehört zu trinken.

Es gibt also einen Punkt, an dem der Konsum in die Abhängigkeit umschlägt, die Gewohnheit in die Krankheit?

Es ist, wie gesagt, kein Punkt, sondern ein Prozess. Ich hatte irgendwann das Gefühl, dass mir mein Leben immer mehr aus der Hand glitt. Auch wenn ich mir vornahm, mal nicht zu trinken, trank ich. Nicht einmal, nicht zweimal, sondern immer wieder. Und wenn ich zu trinken begann, wusste ich oft nicht, wie der Abend enden würde. Angehörige und Freunde fragen sich oft, warum Abhängige trinken, warum sie weiter trinken, wenn sie dabei doch offensichtlich ihr Leben zerstören. Dabei hat das mit eigenem Willen wenig zu tun. Abhängigkeit kann man nicht mit Logik beikommen. Sie ist eine neurologische Krankheit. Ob du es willst oder nicht, dein Kopf hat ganz ohne dein Zutun immer schon für dich entschieden, dass du trinkst.

"Niemand will es zugeben"

Eine Krankheit, die, wie Sie schreiben, immer noch stark tabuisiert wird.

Tabuisiert – und gleichgesetzt mit dem Klischee von Disziplinlosigkeit und Charakterschwäche. Das ist einer der Gründe, weshalb hierzulande nur zehn Prozent der Alkoholabhängigen in medizinische und psychologische Behandlung kommen. Das ist eine erschreckende Zahl. Niemand will zugeben, dass er so tief gesunken ist. Der Selbstbetrug trägt kollektive Züge. Und er kostet Menschen buchstäblich das Leben.

Alkoholkonsum in Deutschland (zum Vergrößern bitte anklicken)

Wenn Alkohol, wie Sie sagen, gesellschaftlich allgegenwärtig ist – warum wird dann der Trinker geächtet?

Vielleicht weil er uns einen Spiegel vorhält. Weil er eine Projektionsfläche ist für unsere eigenen latenten Abhängigkeitsängste. Ich glaube, es handelt sich um eine ganz normale Abwehrreaktion: Gerade weil wir wissen, welchen Schaden Alkohol anrichten kann, grenzen wir den Abhängigen aus und erzählen uns Horrorgeschichten über ihn. Am liebsten in Gestalt von gestrauchelten Prominenten, die schon zum Frühstück eine Flasche Wodka trinken und ohne einen Kasten Bier nicht den Tag überstehen. Wir selbst können so beruhigt weitertrinken. Unser eigenes Trinkverhalten wirkt daneben immer harmlos...

...und der Trinker wie jemand, der sich schämen soll?

Es gibt heutzutage kaum ein größeres Stigma als Alkoholabhängigkeit. Was angesichts der weiten Verbreitung der Krankheit geradezu absurd ist. Umso wichtiger ist es, dagegen anzukämpfen. Jemanden mit Diabetes oder einer Glutenallergie erklärt man auch nicht zum Aussätzigen. Das war auch ein Grund, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Ich treffe immer wieder Leute, die sich wegen ihrer Alkoholabhängigkeit schämen. Und ich will ihnen jedes Mal sagen: Ihr müsst euch nicht schämen. Schämt euch bloß nicht!

Der Pro-Kopf-Konsum an Alkohol in Deutschland hat sich seit der Nachkriegszeit vervierfacht – und geht seit den Achtzigerjahren auf sehr hohem Niveau nur leicht zurück. Sind wir Deutschen auch im Trinken Weltmeister?

Fast alle westlichen Gesellschaften trinken zu viel. Mit steigendem Wohlstand steigt auch der Alkoholkonsum. Er ist aus unseren sozialen und kulturellen Ritualen fast gar nicht mehr wegzudenken. Fast überall wird getrunken, nicht nur in Bars oder Restaurants, sondern auch im Büro, bei Ein- und Ausständen, im Kino oder in der Opernpause. Die meisten von uns merken das nur gar nicht mehr. Das Trinken ist für uns zu einer Art blindem Fleck geworden.

Sie schreiben, dass über Alkohol und Alkoholabhängigkeit in anderen Ländern offener gesprochen wird.

Ja, in den Vereinigten Staaten zum Beispiel, dem Geburtsland von Selbsthilfegruppen wie den Anonymen Alkoholikern. Ich habe sechs Jahre lang in New York gelebt. Es wird dort inzwischen vergleichsweise tabufrei über Alkohol und Abhängigkeit gesprochen. Mehr noch, es hat sich eine regelrechte Gesprächskultur über die Folgen des Trinkens entwickelt – von Oprah Winfreys einstiger Talkshow bis hin zu Fernseh-Serien wie „House of Cards“, zu deren Inventar wie selbstverständlich auch Suchtkliniken und Suchtkranke gehören. Das ist eine große Hilfe, denn es trägt dazu bei, dass Schambarrieren sinken und Missverständnisse abgebaut werden.

Ein Wandel am Rande der Gesellschaft

Aber hat sich nicht auch in Deutschland einiges getan? Immer mehr Leute ernähren sich dezidiert gesund, entdecken die vegetarische Küche und meiden Alkohol.

Ja, an den Rändern unserer Gesellschaft ist tatsächlich ein Wandel bemerkbar. Ich bin immer wieder von manchen jungen Menschen überrascht, die mir sagen, dass sie Alkohol doof finden. Das hätte ich mir mit Anfang 20 nicht vorstellen können. Es gibt heute allgemein ein viel stärkeres Gesundheitsbewusstsein. Aber wir sollten uns nichts vormachen: Die Mehrheitsgesellschaft hat genauso wenig aufgehört zu trinken, wie sie plötzlich aufgehört hat, Fleisch zu essen.

Die Länder mit dem höchsten Alkoholkonsum
Platz 10: Portugal 12,9 Liter reinen Alkohol trinkt jeder Portugiese laut der Weltgesundheitsorganisation WHO durchschnittlich im Jahr. Bei den Südländern erwartungsgemäß besonders beliebt: Wein. Mehr als die Hälfte des Alkoholkonsums entfallen auf den vergorenen Beerensaft. Zum Vergleich: Die Deutschen trinken jährlich 11,8 Liter (Rang 16). Quelle: World Health Organization Quelle: dpa
Platz 9: Tschechische Republik / SlowakeiGleich zwei Staaten teilen sich Platz 9: In Tschechische Republik und der Slowakei trinkt jeder Bürger 13 Liter jährlich. Die Osteuropäer stehen dabei auf härter Getränke. Gut die Hälfte des Alkohols nehmen sie in Form von Schnäpsen zu sich. Quelle: REUTERS
Platz 8: Ungarn Da trinken die Bürger Ungarns schon abwechslungsreicher. Ungefähr je ein Drittel des Alkoholkonsums entfallen auf Bier, Wein und Spirituosen. Der Pro-Kopf-Verbrauch liegt bei 13,3 Liter. Quelle: dpa
Platz 7: AndorraKleines Land, großer Durst: Jeder Bewohner Andorras schüttet sich im Schnitt 13,8 Liter puren Alkohol den Rachen hinunter. Kein Wunder, gelten die Alkohol-Preise in Andorra doch als enorm niedrig. Quelle: dapd
Platz 5: RumänienTuica, Palinca and Rachiu heißen die traditionelle Schnäpse, die sich die Rumänen besonders gern genehmigen. Gründe sie zu trinken, gibt es offenbar genug. Mit einem durchschnittlichen Alkoholkonsum von 14,4 Litern. Quelle: dpa
Platz 6: UkraineNochmal ein bisschen trinkfreudiger sind die Ukrainer. Durchschnittlicher Alkoholkonsum: 13,9 Liter. Laut WHO die traditionellen Getränke der Wahl: Palenka and Grappa. Quelle: dpa
Platz 4: RusslandWodka! Anders als mit dem hochprozentigen russischen Schnaps ist diese Platzierung nicht zu erklären. Besonders Männer trinken den Schnaps literweise und kommen deshalb früher ins Grab. Ein Viertel aller männlichen Russen stirbt noch vor dem 55. Lebensjahr. Laut einer aktuellen Studie der Hauptgrund: übermäßiger Alkoholkonsum. 15,1 Liter Alkohol trinkt jeder Russe. Quelle: REUTERS

Aber gerade in der Wirtschaft begegnet uns doch immer mehr der Typ des sportiven Managers, der morgens um sechs für seinen nächsten Marathon trainiert.

Da ist wahrscheinlich etwas dran. Die holzvertäfelte Minibar im Büro oder mittägliche Geschäftsessen mit reichlich Alkohol gehören sicherlich einer anderen Zeit an. Und wenn sie nicht gerade auf der Büroweihnachtsfeier zu Gast sind, sollten Führungskräfte heute auch nicht angetrunken sein. Ein gewisser Kulturwandel macht sich da durchaus bemerkbar. Es hat sich auch in den Chefetagen herumgesprochen, dass man bessere Entscheidungen trifft, wenn man nicht zwei Flaschen Barolo intus hat. Trotzdem: Das Leitbild des fitten Wirtschaftsführers steht nicht im Gegensatz zum massiven Alkoholkonsum. Es wird weiter ordentlich getrunken. Schlendern Sie mal am späten Nachmittag durch die First Class der ICE-Züge, sehen Sie sich mal am Freitag in den Flughafen-Lounges um: Da wird der Frust des Tages runtergespült. Da entspannt man sich von einer harten Woche – mit Alkohol.

Die Droge Alkohol als Mittel gegen den Stress?

Natürlich. Alkohol ist eines der wirksamsten Sedative und das einzig vollumfänglich anerkannte Stressmanagementmittel in unserer Gesellschaft. Nach zwei, drei Gläsern Wein fühlt sich die Wirklichkeit gleich viel wärmer, weicher und freundlicher an. Trinken scheint das Leben tatsächlich schöner und erträglicher zu machen. Es versöhnt uns mit der Welt, wirkt wie ein Ballon, der uns fortträgt aus der Realität und ihre unangenehmen Seiten vergessen macht. Wenn auch nur vorübergehend – und um einen manchmal fatalen Preis.

Dann müsste die Stressgesellschaft eine Gesellschaft von Trinkern sein.

Abhängigkeit ist nicht nur ein medizinisches Phänomen, sie ist immer auch historischen und kulturellen Schwankungen unterworfen. Menschen haben schon immer getrunken, und das wird auch so bleiben. Nur leben wir heute in einer gesellschaftlichen Konstellation, die Abhängigkeit unterstützt. Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen unter einem noch nie da gewesenen Selbstoptimierungsdruck stehen – und innere Zwänge entwickeln, denen sie nur schlecht entkommen können. Denken Sie nur an die wichtige Burn-out-Diskussion der vergangenen Jahre. Zu den ersten Fragen, die Patienten in Burn-out-Kliniken gestellt werden, zählt: Wie viel trinken Sie? Glauben Sie, Sie haben ein Alkoholproblem? Das ist sicher kein Zufall.

Sie selbst sind seit drei Jahren nüchtern. Welches Wort beschreibt Ihr Leben seither besonders treffend?

Glück. Glück und Zufriedenheit. Das neue, das nüchterne Leben übertrifft alle Erwartungen. Sich den Problemen und inneren Konflikten zu stellen, vor denen man früher weggelaufen ist, zahlt sich aus. Man lernt, wie es ist, sich wirklich zu entspannen. Lernt, was man wirklich fühlt. Lernt, halbwegs authentisch durchs Leben zu gehen. Auch wenn das ein bisschen esoterisch klingt: Man schläft besser, beginnt Menschen besser zu verstehen und öffnet sich der Welt, mit ihrer Schönheit und ihren Konflikten. Das ist unbezahlbar.

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