Alkoholismus Entspannungstrinken für die Stressgesellschaft

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"Niemand will es zugeben"

Eine Krankheit, die, wie Sie schreiben, immer noch stark tabuisiert wird.

Tabuisiert – und gleichgesetzt mit dem Klischee von Disziplinlosigkeit und Charakterschwäche. Das ist einer der Gründe, weshalb hierzulande nur zehn Prozent der Alkoholabhängigen in medizinische und psychologische Behandlung kommen. Das ist eine erschreckende Zahl. Niemand will zugeben, dass er so tief gesunken ist. Der Selbstbetrug trägt kollektive Züge. Und er kostet Menschen buchstäblich das Leben.

Alkoholkonsum in Deutschland (zum Vergrößern bitte anklicken)

Wenn Alkohol, wie Sie sagen, gesellschaftlich allgegenwärtig ist – warum wird dann der Trinker geächtet?

Vielleicht weil er uns einen Spiegel vorhält. Weil er eine Projektionsfläche ist für unsere eigenen latenten Abhängigkeitsängste. Ich glaube, es handelt sich um eine ganz normale Abwehrreaktion: Gerade weil wir wissen, welchen Schaden Alkohol anrichten kann, grenzen wir den Abhängigen aus und erzählen uns Horrorgeschichten über ihn. Am liebsten in Gestalt von gestrauchelten Prominenten, die schon zum Frühstück eine Flasche Wodka trinken und ohne einen Kasten Bier nicht den Tag überstehen. Wir selbst können so beruhigt weitertrinken. Unser eigenes Trinkverhalten wirkt daneben immer harmlos...

...und der Trinker wie jemand, der sich schämen soll?

Es gibt heutzutage kaum ein größeres Stigma als Alkoholabhängigkeit. Was angesichts der weiten Verbreitung der Krankheit geradezu absurd ist. Umso wichtiger ist es, dagegen anzukämpfen. Jemanden mit Diabetes oder einer Glutenallergie erklärt man auch nicht zum Aussätzigen. Das war auch ein Grund, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Ich treffe immer wieder Leute, die sich wegen ihrer Alkoholabhängigkeit schämen. Und ich will ihnen jedes Mal sagen: Ihr müsst euch nicht schämen. Schämt euch bloß nicht!

Der Pro-Kopf-Konsum an Alkohol in Deutschland hat sich seit der Nachkriegszeit vervierfacht – und geht seit den Achtzigerjahren auf sehr hohem Niveau nur leicht zurück. Sind wir Deutschen auch im Trinken Weltmeister?

Fast alle westlichen Gesellschaften trinken zu viel. Mit steigendem Wohlstand steigt auch der Alkoholkonsum. Er ist aus unseren sozialen und kulturellen Ritualen fast gar nicht mehr wegzudenken. Fast überall wird getrunken, nicht nur in Bars oder Restaurants, sondern auch im Büro, bei Ein- und Ausständen, im Kino oder in der Opernpause. Die meisten von uns merken das nur gar nicht mehr. Das Trinken ist für uns zu einer Art blindem Fleck geworden.

Sie schreiben, dass über Alkohol und Alkoholabhängigkeit in anderen Ländern offener gesprochen wird.

Ja, in den Vereinigten Staaten zum Beispiel, dem Geburtsland von Selbsthilfegruppen wie den Anonymen Alkoholikern. Ich habe sechs Jahre lang in New York gelebt. Es wird dort inzwischen vergleichsweise tabufrei über Alkohol und Abhängigkeit gesprochen. Mehr noch, es hat sich eine regelrechte Gesprächskultur über die Folgen des Trinkens entwickelt – von Oprah Winfreys einstiger Talkshow bis hin zu Fernseh-Serien wie „House of Cards“, zu deren Inventar wie selbstverständlich auch Suchtkliniken und Suchtkranke gehören. Das ist eine große Hilfe, denn es trägt dazu bei, dass Schambarrieren sinken und Missverständnisse abgebaut werden.

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