Amy Chua In der Höhle der Tigerin

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Wenn das stimmt, könnte es auch daran liegen, das Chua ihr Buch in einem so selbstbewussten Ton geschrieben hat, dass es zuweilen rechthaberisch wirkt. Zudem setzt sie sich mit großer Entschiedenheit von der westlichen Praxis ab, Kinder ihren Weg selbst bestimmen zu lassen. Manche haben das als Kampfansage interpretiert – zumal der Originaltitel des Buches Battle Hymn of a Tiger Mother Kriegsgeschrei suggeriert. Darauf angesprochen, schüttelt Chua heftig den Kopf: „Die Battle Hymn ist kein Triumphmarsch, sondern eine sehr traurige Hymne, die auf Beerdigungen gespielt wird.“

Auch Chua war sentimental, als sie ihr Buch zu schreiben begann: „Es war für mich Therapie im Moment einer großen Niederlage.“ Nach langen, zermürbenden Auseinandersetzungen hatte sie ihrer jüngeren Tochter gestattet, das Geigespielen aufzugeben und stattdessen mit Tennis zu beginnen. Der Tigermutter brannte das Herz – schließlich hatte die hochmusikalische Lulu es nach Jahren harter Arbeit zu großer Virtuosität gebracht. Schreibend wollte Chua herausfinden, woran sie gescheitert war. „Ich habe nie anderen vorschreiben wollen, wie man seine Kinder erzieht“, sagt Chua.

Hohe Erwartungen

Ist Tiger Mom am Ende gar keine pädagogische Dogmatikerin? Was bleibt, wenn man die Übertreibungen aus ihrem Buch herausrechnet? Ohne zu zögern, beginnt Tiger Mom eine längere Aufzählung: „Am wichtigsten sind hohe Erwartungen. Damit signalisiere ich meinen Kindern, dass ich unerschütterlich an sie glaube. Zweitens wachsen meine Kinder ein bisschen langsamer und traditioneller auf als westliche Kinder. Sie haben viele Freunde und sind sehr beliebt – aber sie verbringen nicht so viel Zeit bei anderen Leuten. Drittens lasse ich es niemals durchgehen, dass meine Kinder schlechte Leistungen durch Ausreden entschuldigen. Viertens sage ich immer aufrichtig meine Meinung, und fünftens bin ich überzeugt davon, dass Kinder im Alter von acht bis vierzehn viel Struktur und wenig Auswahlmöglichkeiten brauchen.“

Innerhalb der Familie spielt Tiger Mom die Rolle der Antreiberin. Sie pfeift ihren Mann zurück, wenn er zu lange mit den Kindern im Spaßbad bleibt. Sie sorgt dafür, dass die Kinder Zahnseide benutzen und rechtzeitig im Bett liegen, um am nächsten Tag leistungsfähig zu sein. Als sie mit ihrem Buch auf Lesereise war, ermahnte sie ihre Tochter per SMS: „Vergiss nicht, dich auf die Mathe-Arbeit vorzubereiten!“

Chua leugnet im Gespräch nicht, für ihre Kinder eine Zumutung zu sein. Auch wenn sie einige Buchpassagen jetzt relativiert, hält sie an ihrer Grundaussage fest: Wer seine Kinder liebt, fordert sie bis zum Äußersten. Im Zentrum ihrer Erziehungsphilosophie steht das Musizieren. Aber es geht ihr nicht um Leistung nur um der Leistung willen: „Erst wenn man etwas gut kann, macht es auch Freude“, davon ist Chua überzeugt. Im Buch schreibt sie: „Klassische Musik ist das Gegenteil des Vulgären und Verwöhnten.“ Die Herausforderung, sich ein Stück zu erarbeiten und schließlich zu beherrschen, bildet den Charakter und kann auf alle möglichen Lebenssituationen übertragen werden, glaubt Chua. Deshalb lässt sie beim Spiel keinen Patzer durchgehen. Als sich ihre ältere Tochter Sophia ans Klavier setzt, um für die Fotografin des ZEITmagazins ein paar Takte zu spielen, unterbricht ihre Mutter: „Deine Finger sind zu flach!“, und Sophia seufzt genervt.

Erziehung übernehmen

Sophia, in der Familie Soso genannt, trägt an diesem Februartag Jeans und ein eng anliegendes Top – wie die meisten amerikanischen Mädchen in ihrem Alter. Im Gespräch beantwortet sie jede Frage höflich und zuvorkommend, aber man spürt, dass sie sich in dieser Rolle nicht wohlfühlt. Verglichen mit ihrer lebhaften Mutter, wirkt die 18-Jährige zurückhaltend. Sie spricht mit sanfter Stimme, überlegt sich jeden Satz genau – wohl wissend, dass man den Erfolg der mütterlichen Erziehungsmethode daran misst, wie gelungen ihre Kinder sind. Sie muss beweisen, dass es möglich ist, jeden Tag stundenlang Klavier zu üben, obendrein für die Schule zu lernen – und trotzdem glücklich zu sein. Nach den glücklichsten Momenten ihrer Kindheit gefragt, antwortet Sophia: „Ein paar Konzerte haben sich eingeprägt, vor allem eins in Budapest. Die Resonanz des Publikums hat es elektrisiert – noch während des Vorspiels haben sie mit den Füßen gestampft und geklatscht.“

Als Amy Chua so heftig angegriffen wurde, schrieb Sophia einen offenen Brief an die New York Post – zunächst gegen den elterlichen Willen und völlig ohne Hilfe, wie Mutter Chua betont. Im Brief ironisiert Sophia souverän ihre Rolle als vermeintlich angekettete Tiger-Tochter, die ab und zu aus dem Käfig herausdarf, um im Keller Mathe-Spiele zu machen. „Meine Vorstellung von einem erfüllten Leben hängt nicht mit Siegen zusammen. Sondern mit dem Bewusstsein, sich selbst an die Grenzen der eigenen Möglichkeiten zu bringen. Wenn ich morgen sterben würde, täte ich das mit dem Gefühl, mein Leben zu 110 Prozent gelebt zu haben. Und dafür, Tiger Mom, danke ich Dir“, schließt ihr Schreiben. Weniger schöne Erinnerungen verbindet sie mit einsamen Nächten, in denen sie sich zu Hause am Klavier mit einer Partitur quälte; eine Passage wieder und wieder spielte, ohne dass ihre Hände das umsetzten, was sie im Kopf hatte. Aber letztendlich sei das Klavier eben ein Teil ihrer Identität. „Es fordert und tröstet mich und bereitet mich auf die Zukunft vor. Ich weiß noch nicht genau, was ich mal machen will, weil ich in allem ziemlich gut bin. Was immer es sein wird – ich freue mich drauf.“ Eigene Kinder möchte Sophia später so erziehen, wie sie selbst es erlebt hat. „Sie sollen eine Sache besonders gut können – ein Instrument oder eine Sportart. Irgendetwas, das nur ihnen gehört.“ Aber, räumt sie ein, anders als ihre Mutter würde sie früher nachgeben, wenn ein Kind wie im Fall ihrer Schwester Lulu dem Musizieren nichts mehr abgewinnen kann.

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