Amy Chua In der Höhle der Tigerin

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In ihrem Buch behauptet Chua, es mache ihr nichts aus, der Buhmann der Töchter zu sein: „Meinetwegen sollen sie mich beide hassen.“ Eine Tigermutter nimmt die vielen Tränen und Streitereien, die es mit sich bringt, wenn man Kinder zum Üben anhält, klaglos in Kauf. Auch eine Übertreibung, oder ist das wirklich so? „Natürlich nicht! Es ist schmerzhaft und anstrengend, immer dagegenhalten zu müssen. Aber wenn ich den Weg des geringsten Widerstands ginge, wäre ich keine gute Mutter“, sagt Chua. Im Gespräch wirkt sie weicher und zweifelnder als im Buch. Und erschöpfter. Man ahnt, wie viel Kraft es Tiger Mom gekostet hat, den hohen Anspruch all die Jahre durchzuhalten. „Ich beneide Leute, die in Ruhe einen Sonnenuntergang betrachten können – dafür bin ich zu ungeduldig.“ Glück definiert sie als delayed gratification – als hinausgezögerte Erfüllung. Etwa wenn sie mit ihrer Tochter monatelang ein schweres Mendelssohn-Stück einstudiert und sie dann beim Vorspiel erlebt. Das Gefühl von Stolz und Freude in diesem Moment, sagt Chua, komme ihrer Glücksvorstellung sehr nahe.

Nerv getroffen

Auch in ihrer Erschöpfung kann Chua nicht lange still sitzen. Mitten im Gespräch springt sie auf, um die Hunde Coco und Pushkin rauszulassen. Mit weit ausholenden Schritten rennt sie so schnell durchs Haus, als könne sie so Zeit für Wichtigeres einsparen. Noch im Laufen erzählt sie atemlos, dass sie gar nicht damit gerechnet habe, jemals einen Verlag für ihr Buch zu finden. Auch ihre Mutter habe gesagt, niemand werde sich für Tiger Moms Geschichten interessieren, denn sie sei ja nicht prominent. Umso überraschender trafen die Familie die heftigen Reaktionen und die Feindseligkeit, die das Buch auslöste.

Nach dem Erscheinen forderte eine amerikanische Journalistin Chua auf, sich öffentlich bei ihren Kindern zu entschuldigen. „Leute, die ihre Kinder jeden Tag stundenlang fernsehen lassen, kritisieren mich jetzt dafür, dass ich meine Töchter zwinge, regelmäßig ein Instrument zu spielen und gewissenhaft Hausaufgaben zu machen“, empört sich Chua. Kerzengerade sitzt sie im Sofa und reißt ihre Augen vor Entrüstung so weit auf, dass sie aus dem puppenhaften Gesicht zu fallen drohen. Andererseits scheint Amy Chua trotz aller Kritik einen Nerv getroffen zu haben, sonst würde sich das Buch nicht so gut verkaufen. Auch hierzulande ist man irritiert, wenn beim Vorspielabend der Schule eine stümperhafte Darbietung auf die andere folgt – und vom Applaus der Eltern quittiert wird. Man zweifelt, ob der pädagogische Fetisch „freies Spiel“ und „Freiarbeit“ bei Kindern tatsächlich zu Leistungsbereitschaft führt. Und manch einer bewundert Amy Chua vielleicht insgeheim für ihre Konsequenz und Entschiedenheit.

Die berüchtigte Liste

Auf der ersten Seite ihres Buches zählt Tiger Mom auf, wozu sie ihre Töchter verpflichtet hat – die berüchtigte Liste. Keine Geburtstagspartys besuchen zum Beispiel. Immer die Bestnote bekommen. Nicht im Schultheater mitspielen, weil das Zeitverschwendung ist, und nicht bei Freundinnen übernachten. Chua sagt, ihre eigene Kindheit habe sie zu dieser Liste inspiriert. Ihre Eltern hätten die aufgezählten Prinzipien kompromisslos und mit bitterem Ernst angewandt, sie selbst lasse inzwischen Ausnahmen zu. „Wenn meine Kinder leidenschaftlich gerne Theater spielen wollten, dürften sie das natürlich. Ab und zu übernachten sie auch bei Freunden. Aber sie sind nicht glücklich, wenn sie zurückkommen. Sie sind müde und gereizt.“ Nur bei den Schulnoten fährt die Tigermutter die harte Linie ihrer Eltern: „Das Ziel ist die Eins und nicht die Eins minus. Meine Kinder müssen nicht zwingend die Besten sein – aber sie sollen versuchen, zu den Besten zu gehören. Letztlich geht es nicht um Noten und Auszeichnungen – sondern darum, das eigene Potenzial zu erkennen.“

Wie bei allen Müttern ist auch der Erziehungsstil von Tiger Mom stark von den eigenen Kindheitserfahrungen geprägt. Die Wehmut über den Verlust der Heimat klingt im Buch an, auch die Einsamkeit von Einwanderern. Chuas Eltern sprachen kein Wort Englisch, als sie in Amerika landeten. Ihre Töchter schickten sie mit Thermosgefäßen voll chinesischen Essens in die Schule und verboten ihnen, Jeans anzuziehen. Amy schmuggelte heimlich Klamotten in die Schule und zog sich auf der Toilette um. Der Liebe zu ihren Eltern tat das keinen Abbruch: „Meine ungewöhnliche Familie gab mir Kraft und Selbstvertrauen.“ Die Eltern vermittelten ihr traditionelle chinesische Werte wie Respekt und Gehorsam, und in der Schule lernte Chua ein System kennen, das Kindheit als Zeit der Spontaneität und Freiheit definiert. Irgendwo zwischen den Extremen hat sich ihr eigener Erziehungsstil eingependelt.

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