Amy Chua In der Höhle der Tigerin

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Ihren selbst gewählten Spitznamen Tiger Mom erklärt Chua mit dem chinesischen Horoskop – sie wurde 1962, im Jahr des Tigers, geboren. Chua identifiziert sich mit der kraftvollen Energie und der Vormachtstellung des Tigers. Außerdem soll der Tiger sehr liebesfähig sein. Die Synthese dieser Merkmale macht eine Tigermutter aus: Sie verbindet Liebe mit hohen Anforderungen. „In chinesischen Immigrantenfamilien ist diese Liebe mit viel Schmerz verbunden“, sagt Chua. Schmerz, der durch Isolation entsteht. Es macht einsam, wenn man sich nicht zum Spielen verabreden kann, weil man Klavier üben muss. Oder wenn man nicht bei anderen Kindern übernachten darf.

Auf der Lesung in Washington am Vorabend hätten sich eine Reihe asiatischer Immigranten bei ihr für das Buch bedankt, erzählt Chua. „Einer meinte: Endlich verstehe ich meine Eltern!“ Ein paar Mütter hätten ihr verschwörerisch zugeblinzelt und gesagt: „Wir sind auch Tigermütter, und unsere Kinder entwickeln sich prima...“ Es klingt, als sei Chuas Buch für einige ein Befreiungsschlag – ein lange überfälliger Beweis, dass Pädagogik asiatischer Prägung nicht zwingend seelenlose Roboter heranzieht, die zwar viel können, aber so unglücklich sind, dass sie sich mit achtzehn vom Hochhaus stürzen. Als hätten Eltern – egal ob asiatischer oder westlicher Prägung–, die ihren Kindern viel abverlangen, auf Chuas Coming-out gewartet.

Mehr Alternativen lassen

Am frühen Abend kommt Lulu Chua-Rosenfeld – die jüngere, rebellische Tochter – nach Hause. Sie hat ein Tennisturnier gespielt und, natürlich, gewonnen. Die 15-Jährige ist, wenngleich auf eine physischere Art, ähnlich raumgreifend wie ihre Mutter – sie poltert in die Eingangshalle herein, schleudert ihren Schläger in die Ecke und schaut dem Besuch aus Deutschland herausfordernd in die Augen. Wo sie mal hinwill? Lulu macht eine wegwerfende Handbewegung. „Keine Ahnung. Auf jeden Fall hat es nichts mit Mathe oder Naturwissenschaft zu tun. Momentan macht mir Facebook am meisten Spaß.“ Sie rollt mit den Augen und schiebt flüsternd hinterher: „Ich bin süchtig!“ Sie wirkt freier als ihre Schwester, hat weniger Angst, einen Fehler zu machen.

Lulu hat ihre Mutter veranlasst, ihre Strategie zu überdenken. Einiges, so Amy Chua, würde sie rückblickend anders machen: nicht so viel herumschreien zum Beispiel. Mehr Alternativen bei der Auswahl der Instrumente zulassen („Meinetwegen dürften sie auch Cello oder Flöte spielen – aber keinesfalls das Tamburin!“). Und sie würde mehr auf die individuellen Persönlichkeiten ihrer grundverschiedenen Töchter eingehen. Sie hat aus ihren Fehlern gelernt und bleibt wochentags extra länger im Büro, um Lulu zu Hause Freiraum zu lassen. Auch Facebook ist jetzt erlaubt – obwohl Tiger Mom Zweifel hat, ob das richtig ist. „Ich lasse zwei Stunden Facebook zu – und sie will immer mehr!“

„Wie würdest du deine Mutter charakterisieren, Lulu?“

„Sie glaubt an sich selbst. Und an uns. Und an die Hunde.“

Drill und Herzenswärme

Es ist Abend geworden. Tiger Mom regt an, noch schnell ein Gruppenfoto mit beiden Töchtern zu machen – „sonst denkt man, du willst dich neben mir nicht sehen lassen, Lulu!“. Doch Lulu will sich im verschwitzten Tennis-Outfit nicht ablichten lassen. Zwischen Mutter und Tochter entwickelt sich ein neckischer Ringkampf, die beiden tänzeln umeinander und versuchen, sich zu packen. „Hör auf, Mom!“, wehrt Lulu ab und lacht ein breites Zahnspangenlachen. Man hatte sich die Tigermutter als eine Art Fräulein Rottenmeier vorgestellt, die ihre Tochter, die Peitsche griffbereit, mit schneidender Stimme maßregelt. Stattdessen trifft man eine lustige Person, die das Vorurteil widerlegt, eine rigide Erziehung schließe automatisch Hartherzigkeit und Humorlosigkeit mit ein. Tiger Mom zeigt, dass Drill und Herzenswärme keine Gegensätze sind.

Den Ringkampf verliert sie, und nachdem sie sich von dem Besuch aus Deutschland verabschiedet hat, läuft Chua die Treppe hinauf, um sich umzuziehen, Freunde aus New Haven veranstalten ihr zu Ehren eine Buchparty. Auf halbem Weg dreht sie sich um und ruft: „Lulu, du musst noch Bio machen! Hörst du? Bevor wir gehen, bist du mit Bio fertig.“

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