Um dieses Problem zu lösen, gründete Berkman vor einigen Jahren eine Forschungsgruppe. Sein Team will untersuchen, warum Menschen, die eigentlich wissen, was gut für sie wäre, sich ganz anders verhalten. Das trifft auf Übergewichtige ebenso zu wie auf Büroarbeiter, die alles erst auf die letzte Minute erledigen. „Es gibt sogar Ähnlichkeiten im Verhalten zwischen Drogensüchtigen und Menschen, die unangenehme Aufgaben ständig verschieben“, sagt Berkman.
Er greift vor allem auf Konzepte aus der Verhaltensökonomie zurück. Wer ständig wichtige Aufgaben verschiebt, leidet unter einem Symptom, das Wirtschaftswissenschaftler „inkonsistente Zeitpräferenzen“ nennen. Was kompliziert klingt, ist eigentlich ganz einfach.
In einem klassischen Experiment aus dem Jahr 1994 stellte ein Team um den Psychologen Leonard Green von der Washington-Universität in St. Louis 24 Studenten vor eine schwere Entscheidung: Sie konnten entweder 20 Dollar sofort bekommen oder mussten drei Monate warten, um dann 50 Dollar zu erhalten. Wenig überraschend: Fast alle wählten den kleineren Betrag, den sie direkt mitnehmen konnten. Meist ist uns eben der sprichwörtliche Spatz in der Hand lieber als die Taube auf dem Dach – aber eben nicht immer.
Das zeigte die zweite Runde. Darin veränderten die Forscher die Entscheidung leicht: Wieder mussten die Studenten zwischen 20 oder 50 Dollar wählen. Doch diesmal wurden 20 Dollar erst in drei Monaten ausgezahlt und 50 Dollar in sechs Monaten. Der Abstand zwischen den Auszahlungen hatte sich also nicht geändert. Noch immer mussten die Teilnehmer drei Monate zusätzlich warten, um den höheren Betrag zu bekommen. Doch plötzlich waren deutlich mehr von ihnen dazu bereit, diese Zeit zu investieren. „Was wir sofort bekommen können, bewerten wir höher als eine Sache, auf die wir warten müssen“, sagt Gerlinde Fellner-Röhling, Ökonomin an der Universität Ulm. „Wenn wir aber ohnehin warten müssen, fallen ein paar weitere Tage auch nicht ins Gewicht.“
Dieses Verhalten haben Verhaltensökonomen und Psychologen in zahlreichen Experimenten in unterschiedlichen Ländern und Kulturen nachweisen können. Und dieser Effekt tritt nicht nur bei angenehmen Dingen wie einem Geldgewinn auf. „Bei unangenehmen Aufgaben ist es ähnlich“, sagt Fellner-Röhling. „Sie erscheinen weniger schlimm, wenn sie erst in ein paar Tagen anstehen.“ Genau dieser Effekt verleitet uns dazu, ständig immer alles auf morgen zu verschieben.
Schlechte Stimmung durch Aufschieben
Das ist nicht nur lästig, sondern auch gefährlich. Denn so harmlos wie lange angenommen ist die Prokrastination nicht. „Das Risiko für Depressionen ist bei pathologischem Aufschiebeverhalten deutlich erhöht“, sagt Stephan Förster, Psychotherapeut an der Universität Münster. Von einer solchen Form der Prokrastination sprechen Experten, wenn die Betroffenen regelmäßig Aufgaben verschieben, obwohl es eigentlich genug Zeit gäbe. Außerdem leiden sie an körperlichen und psychischen Folgen wie Muskelverspannungen, innerer Unruhe oder Schlafstörungen.
So hoch empfinden die Deutschen die Stressbelastung bei der Arbeit
Auf einer Skala von 1 bis 10 stuften die Deutschen ihr Stresslevel bei der Arbeit bei 6,6 ein. In den Vorjahren war der Wert mit 6,3 beziehungsweise 6,4 etwas geringer.
Quelle: Edenred-Ipsos-Barometer 2015, "Wohlbefinden & Motivation der Arbeitnehmer"
Bei Führungskräften liegt das gefühlte Stresslevel mit 6,9 etwas über dem Durchschnitt
In der Einzelbetrachtung ohne Führungskräfte gaben nur die Angestellten einen Wert von 6,5 an.
Was das Stressempfinden anbelangt, haben die jeweiligen Generationen gleich viel Stress. Bei den unter 35-Jährigen und in der Altersgruppe der 45- bis 54-Jährigen beträgt der Wert 6,5. Die über 54-Jährigen sowie die Altersgruppe von 35 bis 44 sind mit einem Wert von 6,6 nur wesentlich stärker gestresst.
Diese Symptome schaden wiederum unserer Leistungsfähigkeit, sie senken unseren Antrieb und verschlechtern unsere Stimmung – und verschlimmern das Problem mit dem Aufschieben nur noch weiter.
Bereits seit dem Jahr 2006 gibt es daher an der Universität Münster eine Prokrastinationsambulanz. Studenten, die Probleme haben, rechtzeitig mit Hausarbeiten und Klausurvorbereitungen anzufangen, können sich hier von einem Team aus Psychologen und Psychotherapeuten beraten lassen. An anderen Universitäten gibt es inzwischen ähnliche Angebote.