Noch einmal: Sie wollen sagen, die anonyme Bestattung, ohne Abschied durch die Angehörigen, sei kein Bruch mit der Tradition?
Ein Bruch ist sie insofern, als sie ein Novum darstellt in unserer Kultur, aber auch nur in Bezug auf die letzten 200 Jahre. Die Beerdigung Mozarts fand bekanntlich noch in einem Massengrab statt, vor den Toren Wiens. Das war damals gängige Praxis und entspricht, was die hygienischen Standards betrifft, in etwa dem Ausstreuen der Asche auf einem Feld. Im Übrigen gibt es auch bei der anonymen Bestattung Restformen des Rituellen: Nicht der Friedhofsgärtner verstreut die Asche, sondern der Friedhofsangestellte, und der trägt sicher einen schwarzen Anzug.
Riten, so heißt es, vermitteln Trost, geben Halt im Haltlosen. Wie funktionieren sie, was ist ihr Betriebsgeheimnis?
Ich denke, man tut gut daran, zwischen Riten und Symbolhandlungen zu unterscheiden. Riten funktionieren immer durch Routinen. Ohne Routinen würden wir unseren Alltag nicht bestehen. Wenn ich jeden Morgen in den selben Bus steige, dann kann ich in der Regel sicher sein, dass er mich an mein Ziel führt, ich muss nicht jeden Morgen neu darüber nachdenken. Und wenn er es nicht tut, ist das ein Verstoß, dann bin ich sauer. Religiöse Riten funktionieren auf die gleiche Weise: Sie sind auf Wiederholbarkeit angelegt, auf Routinen. Ich muss nicht darüber nachdenken, wie ich mitten in meinem Schmerz den lieben Freund, den lieben Verwandten begrabe. Das heißt: Religiöse Riten entlasten uns, sie zeigen, wie die Routinen des Alltags, dass die Welt in Ordnung ist.
Trotz des Chaos, in das ich geraten bin.
Genau. Der Ritus zeigt, dass es eine gute Ordnung des Lebens gibt. Inwieweit ich als Trauernder in der Lage bin, in diese Ordnung zurückzufinden, ist individuell natürlich sehr verschieden. Ich komme ja von der Beerdigung nicht mit dem Gefühl zurück, dass meine Welt in Ordnung ist. Im Gegenteil, sie ist in Unordnung geraten. Aber der Ritus zeigt mir: Es gibt diese Ordnung. Und ich soll in sie zurückkehren.
Der Ritus soll stabilisieren.
Und das tut er, indem er mich entlastet, indem nicht ich den Vollzug der Handlung steuere, sondern umgekehrt der Ritus die Form der Handlung bestimmt. Nicht ich muss entscheiden, ob und an welcher Stelle der Sarg abgesenkt wird, sondern das entscheidet die Form „an sich“, der ich mich anvertraue. Klar, wenn ich zum ersten Mal an einer Beerdigung teilnehme, ist das für mich alles andere als routiniert. Aber für die Gemeinschaft, in diesem Fall die Kirche, die ihre Toten seit 2000 Jahren begräbt, für die ist das eine Routine.
Man delegiert beim kirchlichen Begräbnis also die Form, in der man endgültig vom Verstorbenen Abschied nimmt. Wären nicht auch neue, zeitgemäße Riten vorstellbar?
Man kann heute alles ritualisieren, das behauptet jedenfalls der Ratgebermarkt: Die Trennung vom Ehepartner, die Forderung um Gehaltserhöhung, den Eintritt ins Pensionsalter. Für alles Mögliche gibt es inzwischen Riten von Ritendesignern. Ich meine allerdings, dass der Begriff Ritus sinnvoll nur dann verwendet werden kann, wenn er auf eine Alltagsroutine verweist. Ich bezweifle auch, dass man Riten ernsthaft erfinden kann. Man muss sie „finden“, kann sie aber nicht „erfinden“. Wenn man die christlichen Riten betrachtet, dann fällt doch auf, dass sie sämtlich auf anthropologischen Grundmustern beruhen, auf Grundvollzügen des menschlichen Alltags: Die Taufe auf dem Waschen, die Firm-Salbung auf der Körperpflege, die Eucharistie auf Essen und Trinken. Die neueren Gestaltungselemente, das Aufsteigen-Lassen von Luftballons am Grab, das Anmalen des Sargs, das Schreiben von Abschiedsbriefen – das sind Symbolhandlungen. Die setzen aufs Individuelle, Persönliche, Unverwechselbare...
...auf das Unikat
...und sind deshalb das Gegenteil eines Ritus.