Berlins Theater ohne Peymann und Castorf Zwei Bühnen-Partisanen treten ab

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„Das Packpapier ist wichtiger als das Hochglanzprodukt“

Besonders aufschlussreich, nicht zuletzt als Kondensate ihres künstlerischen Selbstverständnisses, sind die Gespräche mit Castorf selbst („Das Packpapier ist wichtiger als das Hochglanzprodukt“) – und mit Pollesch, für den das (Rollen-)Spiel bekanntlich da anfängt, wo die Figuren aufhören, von Charakter zu sein. „Alle tun so, als müsse man Hamlet jedes Mal reloaden“, sagt Pollesch, dabei könne man „genauso gut sagen, jeder, der ins Theater geht, kennt Hamlet. Und macht an diesem Punkt weiter.“

Die Bühne als Kanzel

Eine größere Distanz zu Peymanns Theater lässt sich vermutlich nicht denken. Während Castorfs Volksbühne der Ort war, an dem klassische Stofffetzen zum Fundus expressiver Generaleinsprüche wurden und das Theater den dionysisch-rauschhaften Ausnahmezustand vor seiner endgültigen Kommodifizierung probte, beharrte Peymanns Berliner Ensemble wütend auf der „Schaubühne als moralischer Anstalt“. Mit Peymann, 80, tritt der letzte deutsche Theaterdirektor ab, der die Bühne im Sinne Schillers als Kanzel verstand – und der im Sinne Brechts auf ihr zugleich die großen Konflikte durchschaubar machen, die Gesellschaft zum Besseren verändern wollte.

Für sein Buch

Entsprechend anmaßend sein Abschiedsbuch: Was für eine bilderreiche 500-Seiten-Hommage, selbstverständlich Großformat! Was für eine zitatselige Leistungsschau des theatralischsten aller Intendanten: „Bundeskanzler, das kann doch jeder! Aber ein guter Theaterdirektor, da können Sie lange suchen!“ Was für ein Denkmal für Peymann, den ungestüm Zornigen, der 1966 mit Peter Handke das Publikum beschimpfte und seit den Siebzigern mit Thomas Bernhard Wien sabotierte! Was für ein Nachruf auf den grantelnden Entertainer und Zirkusdirektor, der wie ein erzürnter Don Quichotte gegen den Machtverlust des Theaters als Ort der sittlichen Bildung ankämpfte, gegen die „leeren, weißen Hemden“ der Kulturpolitik und all die „Lebenszwerge“, die nichts von Theaterwundern und schauspielerischer Magie verstehen. Hier, noch einmal, ziehen Peymanns Weggefährten, ziehen Tabori und Wilson, Minetti und Buhre, natürlich auch RitterDeneVoss, an einem vorbei – und setzen König Claus die Krone auf.

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