Was würde passieren?
Die Leute würden quasi in die Sitze getrieben. Dabei braucht jeder Mensch eine gewisse Zeit, um sich zu verorten, wie der Hund, der sich dreimal im Kreis dreht, bis er im Körbchen liegt. Der Platz will, auch auf engstem Raum, erobert werden – im Mikroraum des Flugzeugs gibt es eine Reihe interessanter Befunde dazu: Manche schmeißen die Zeitung auf den Sitz, hängen die Jacke auf, gucken sich um und versuchen, das Gepäck über dem Sitz zu verstauen. Das Handgepäck ist unser „material me“, ein Minimum an Eigenem, ein letztes Stück Verortung, das zu uns gehört, in einer Situation, in der wir uns der Expertise des Piloten anvertrauen, aber handlungslogisch betrachtet ausgeliefert sind.
Der Passagier versucht, sich im Exterritorialen einzuhausen?
Ja, die Platznahme verweist auf ein anthropologisches Bedürfnis nach Verortung. Weil uns das Flugzeug räumlich wie zeitlich im Nirgendwo zwischen A und B platziert, weil wir weder „hier“ noch „dort“ sind, und dieses insbesondere in sozialer Hinsicht, also „lost in translation“, werden wir zu Entwurzelten, die eine Ersatzverortung brauchen – zum Beispiel in Form des Handgepäcks, das in Reichweite ist.
Da haben es die Bahnkunden besser.
Sicher, die Schiene verspricht Bodenhaftung. Vor allem: Der Gast kann im Zug mit seinem Gepäck wandern, das ist zwar manchmal lästig, auch für die anderen Gäste, aber es stärkt das Selbstgefühl.
...oder er guckt aus dem Fenster.
Das kann er im Flugzeug auch. Beides, Fenster- oder Gangplatz, der Blick nach draußen oder die schnelle Fluchtmöglichkeit, ist eine Antwort auf die Krise der Verortung.
Gilt das auch für die Kommunikation an Bord?
Unbedingt. Ich bin viel unterwegs, meistens mit der Bahn, und setze mich dann immer ins Restaurant. Was ich vor allem feststelle, ist erhöhte Gesprächsbereitschaft. Die Leute reden gern miteinander. Warum? Weil die Begegnung im Zug flüchtig, so fluid ist. Weil wir unseren Gesprächspartner mit hoher Wahrscheinlichkeit nie wieder sehen werden. Das folgt der Logik der Reisebekanntschaft: Die Kommunikation ist umso stimulierender, je weniger Verpflichtungen sie erzeugt und je entlasteter sie von Verpflichtungen ist.
Ihre Folgenlosigkeit beflügelt die Fantasie...
...und reduziert das Selbstdarstellungsrisiko: Es ist wie beim Seemannsgarn, man kann alles Mögliche erzählen, ohne gleich auf Beweise festgelegt zu werden.
Das ist im Flugzeug doch ganz ähnlich.
Sicher, es ist vergleichsweise unwahrscheinlich, dass man vom Sitznachbarn gefragt wird: „Stimmt das eigentlich, was Sie da sagen?“ Im Flug bleiben die Dinge in der Schwebe. Gerade das „In-between“ der Passage, die wir als eine Art Auszeit des Lebens wahrnehmen, weckt unsere Abenteuerlust. Unbewusste Vorgänge, die sich der Wahrnehmung entziehen. Nehmen wir zum Beispiel den Unterschied zwischen Orangensaft und Tomatensaft an Bord.
Wie bitte?
Ja, der Orangensaft steht für die Antizipation des Abenteuers, für das Außergewöhnliche, das ich im Urlaub erleben möchte, der Tomatensaft ist gleichsam gesundheitsnäher, quasi als Medikament, als Vorsorge: Damit reagiere ich auf die Gefahrensituation des Fliegens.
Das Unterwegssein fördert überhaupt die Konsumfreude – warum eigentlich?
Weil uns mit der häuslichen Verortung auch das rationale Kalkül abhanden kommt: „Können wir uns das noch leisten? Ist das noch durch unser Konto gedeckt?“ Am Flughafen, erst recht im Flugzeug, sind wir in einem Zustand abgeschwächter verinnerlichter Sanktionen – und kaufen gleich mehrere Parfüms. Plötzlich werden wir reich, weil unsere Abwesenheit uns von dem Sozialraum entfernt, der uns zu realitätsgerechtem Handeln verpflichtet.