Beschwerden beim Fliegen Warum wir im Flieger zum Miesepeter mutieren

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"Im Ort- und Zeitlosen kann man sich alles Mögliche erlauben"

Das Flugzeug verwandelt uns?

Ja, aber diesen Gedanken nicht zu wörtlich nehmen. Wenn etwa Fluggäste Schuhe und Strümpfe ausziehen und sich während des Flugs ihre Fußnägel schneiden, dann geschieht das nicht etwa aus Rücksichtslosigkeit, sondern weil solche Verstöße gegen die guten Sitten, anders als im eigenen Verkehrskreis, unter den Bedingungen des Transits als folgenlos wahrgenommen werden. Im Ort- und Zeitlosen kann man sich alles Mögliche erlauben. Man kennt sich ja nicht und ist in vier Stunden ganz woanders.

Sie haben eine Typologie von Verhaltensweisen entwickelt: Warum sind Beschwerden über den Service so beliebt?

Weil die erzwungene Beengtheit und der damit verbundene Autonomieverlust Unmut nach sich ziehen können. Und wie artikuliere ich den? Durch Kritik. Dabei habe ich eigentlich gar nichts zu kritisieren. Also suche ich Pseudogründe und rufe bei jeder Kleinigkeit die Flugbegleitung. Zum Beispiel wenn der Sitznachbar vor mir seine Lehne nach hinten rückt. „Könnten Sie dem Mann da vorn sagen, er möge seine Lehne hochstellen?“ Dergleichen geschieht, obwohl es naheliegend wäre, selbst den Nachbar darum zu bitten. Aber man sucht lieber Hilfe bei der Autorität oder klagt um der Klage willen: „Warum kommt das Essen so spät? Warum fängt der Service immer hinten an?“

Bei der Bahn ist Kritik zu einer Art Volkssport geworden.

Ja, aber die betrifft weniger den Service als die Zugbegleiter, die vor allem für die Kontrolle der Legitimität der Anwesenheit zuständig sind. Diese Kontrollaufgabe müssen sie mit Zuvorkommenheit kombinieren, darin liegt ihre Kunst. Insgesamt ist der Umgang mit den Fahrgästen deutlich ziviler geworden. Heute kommt kein Zugbegleiter mehr ins Abteil mit einem markigen „Fahrkartenkontrolle!“.

Trotzdem, woher kommt die Empfindlichkeit der Bahn-Kunden gegenüber den Defiziten der Bahn, vor allem gegenüber der notorischen Unpünktlichkeit der Züge?

Ich glaube, die Bahn ist nicht zuletzt ein Opfer ihres eigenen Perfektionsversprechens. Die Schienen-Technologie nährt die Erwartung, dass es keine Ausfälle gibt. Zumal der Lokführer auch nicht auf natürliche Beeinträchtigungen hinweisen kann wie der Pilot, der vor Turbulenzen warnt. Hinzu kommt die in unserem Land tief eingewurzelte Vorstellung, die Bahn verkörpere als ehemaliges Staatsunternehmen geradezu idealtypisch deutsche Tugenden wie Ordnungssinn und Pünktlichkeit. All das führt bei den Fahrgästen zur Intoleranz auch gegenüber minimalen Abweichungen. Beim Fliegen und Autofahren nehmen wir Verspätungen dagegen als quasi naturgegeben hin.

Viele Airlines diskutieren darüber, ob Handygespräche an Bord erlaubt werden sollen – müssen wir in Zukunft mit lautstarken Dauertelefonaten rechnen wie im Zug?

Tilman Allert Quelle: Presse

Ja, möglicherweise. Die Erfahrung mit der Bahn lehrt jedenfalls, dass es Berufsvertreter gibt, die ständig ihre kommunikative Ubipräsenz unter Beweis stellen müssen. Diese Selbstdarstellungshektik greift einen Trend auf, den eine Hotelreklame anschaulich zum Ausdruck bringt: „Für alle, die überall sind, sind wir jetzt überall.“

Das Ideal der Erreichbarkeit...

...hinter dem im Grunde die Furcht vor Adressenlosigkeit steckt. Denn das ist das Schlimmste, was einem in modernen Gesellschaften passieren kann: keine Adresse mehr zu haben. Deshalb wird gerade im Unterwegs gern das Gegenteil demonstriert.

Tilmann Allert, 67, ist Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Große Beachtung fand seine Studie „Der deutsche Gruß. Geschichte einer unheilvollen Geste“.

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