Beschwerden beim Fliegen Warum wir im Flieger zum Miesepeter mutieren

Der Soziologe und Sozialpsychologe Tilman Allert hat festgestellt, dass wir während eines Flugs nicht nur gerne Tomatensaft trinken, sondern uns immer häufiger beschweren. Das aggressive Meckern hat einen Grund.

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Der Sitzplatz, die Stewardess, der Sitznachbar. Im Flugzeug wird besonders viel genörgelt Quelle: dpa

WirtschaftsWoche: Herr Professor Allert, Fliegen ist für uns Alltag geworden. Dennoch unterliegt das Fliegen, wie Sie behaupten, einer eingebauten Riskanz. Verleugnen wir die Situation, in die wir dabei geraten?

Tilman Allert: Nein, wir haben vielmehr Routine gewonnen im Umgang mit Risiken. Wir arrangieren uns mit der Möglichkeit des Ernstfalls. Das ist typisch für moderne Gesellschaften und gilt im Grunde für alle Technologien der Raumüberwindung. Denken Sie nur an das Autofahren: Wenn wir den Gurt anlegen, realisieren wir für einen Moment die potenzielle Gefahr, die mit dem Autofahren verbunden ist, ohne daraus den Schluss zu ziehen, gar nicht erst loszufahren. Zu Beginn eines Flugs begegnet uns Ähnliches, kaum in seiner Bedeutung wahrgenommen: der Hinweis auf mögliche Turbulenzen.

Sie meinen die Sicherheitshinweise der Stewardessen?

Ungewöhnlicher Zusatzservice der Fluglinien

Ja, da werden die Fluggäste auf Ungewissheiten aufmerksam gemacht. Das Fliegen wird ausdrücklich als Krise kommuniziert, eine komplexe Herausforderung an den Beruf der Flugbegleiter. Sie können die Möglichkeit einer Gefahr weder mimisch antizipieren, also etwa mit angstvoll aufgerissenen Augen auf die Sicherheitsvorkehrungen – Schwimmweste etwa – hinweisen, noch dürfen sie in selbstgewissem Gastgeberlächeln drüber hinweggehen. Die Kunst der Flugbegleiter besteht vielmehr darin, den Ernst mit Freundlichkeit zu verbinden – dies hinzubekommen setzt hohe Professionalität der Kommunikation voraus.

Zehn Dinge, die Sie noch nicht über Flugbegleiter wussten
So lange die Flugzeugtür offen ist, gibt es auch kein GeldFlugbegleiter werden nur für Flugstunden bezahlt. Das bedeutet, dass die Zeit, während der die Reisenden einsteigen, Zeitschriften verteilt und Handgepäck in den Fächern über den Sitzen verstaut wird, nicht als Arbeitszeit anerkannt wird. Flugverspätungen und –ausfälle tun den Stewards und Stewardessen also genauso weh wie den Passagieren – vielleicht sogar mehr.Die Stewardess Heather Poole hat mehr als 15 Jahre für eine große Fluggesellschaft gearbeitet und über ihre Erfahrungen das Buch „Cruising Attitude“ (deutscher Titel: „Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen: Eine Stewardess erzählt“) geschrieben. Sie verrät zehn unbekannte Fakten über ihre Arbeit. Quelle: REUTERS
Deine Körpergröße bestimmt, ob du Flugbegleiter sein kannstFlugbegleiter müssen groß genug sein, um an die Staufächer über den Sitzen zu kommen, dürfen aber nicht so groß sein, dass sie sich den Kopf in den Gängen stoßen. Heutzutage bedeutet das, dass Stewards und Stewardessen je nach Flugzeug zwischen 1,61 und 1,85 Meter groß sein müssen. Strenge Gewichtsvorschriften wie früher einmal gibt es nicht mehr – allerdings muss man in den Sitz passen. Außerdem muss ein jährliches Trainingsprogramm absolviert werden. Quelle: AP
Du kannst aus völlig bizarren Gründen gefeuert werdenVor allem in den ersten sechs Monaten werden Flugbegleiter besonders streng unter die Lupe genommen. Heather Poole erzählt, sie kannte eine Stewardess, die in ihrer Probezeit gefeuert wurde, weil sie den Pullover ihrer Uniform um ihre Hüfte gebunden hatte. Ein anderer Neuling flog raus, weil er vorgegeben hatte, schon ein vollwertiger Flugbegleiter zu sein, um kostenlos nach Hause fliegen zu dürfen – denn diese Privilegien gelten in der Probezeit noch nicht. Ein weiterer kurioser Fakt: Wer sich krank meldet, darf nicht fliegen – auch nicht als Passagier einer anderen Airline. Zuwiderhandlungen können zur fristlosen Kündigung führen. Quelle: Fotolia
Je älter, desto kürzer der RockZumindest bei weiblichen Flugbegleitern hat das Dienstalter einen Einfluss auf die Kleidung: Je länger eine Stewardess dabei ist, desto kürzer wird der Rock ihrer Uniform – zumindest im übertragenen Sinne. Denn während der Probezeit darf der Rock nicht gekürzt werden. Erst, wenn diese Zeit überstanden ist, dürfen die Stewardessen den Rocksaum kürzen und etwas Bein zeigen. Auch, welche Routen man fliegen oder welche Tage man frei nehmen darf, hängt vom Dienstalter ab. Quelle: dpa
Manche Passagiere versuchen sogar, Tote an Bord zu schmuggelnDa gab es etwa den Fall, in dem ein Mann in Miami versuchte, seine tote Mutter in einem Kleidersack ins Flugzeug zu schmuggeln. Eine Kollegin von Heather Poole hat einmal erlebt, wie Tochter und Mutter versuchten, den verstorbenen Ehemann bzw. Vater in einem Rollstuhl an Bord zu bringen. Er habe nur die Grippe, versicherten sie – doch die Stewardess sah sofort, dass der Mann tot war, so grau und zusammengesackt wie er im Rollstuhl saß. Warum versuchen manche Menschen, Tote mit ins Flugzeug zu schmuggeln? Weil es sehr teuer ist, Leichen im Flieger zu überführen. Das kann bis zu 5000 Dollar kosten, berichtet Poole. Quelle: dpa
Light-Cola ist die Hölle!Von allen Getränken, die an Bord ausgeteilt werden, ist Diät-Cola das schlimmste für die Flugbegleiter. Die Limonade schäumt auf Flughöhe so stark, dass es ewig dauert bis man einen Becher davon eingeschüttet hat. In der Zeit, die sie für eine Light-Cola brauche, könne sie drei weitere Passagiere mit anderen Getränken versorgen, berichtet Poole. Quelle: dpa
Die Konkurrenz ist verdammt hartAls Delta Airlines im Jahr 2010 1000 Stellen ausschrieb, trudelten mehr als 100.000 Bewerbungen ein. Nicht einmal an der Elite-Uni Harvard ist das Verhältnis so hoch. Was dazu führt, dass die meisten Bewerber eigentlich völlig überqualifiziert sind. Sie kenne Ärzte und Anwälte, die auf Flugbegleiter umgesattelt hätten, erzählt Heather Poole. Und das, obwohl das Einstiegsgehalt gerade mal 18.000 Dollar im Jahr beträgt. Quelle: dpa

Demonstratives Gelangweiltsein oder Grinsen wäre also unangemessen?

Ja, das würde das realitätsgerechte Sich-Einstellen auf den möglichen Ernstfall vernachlässigen. Die Flugbegleiter formulieren als Vertreter der Fluggesellschaft somit zweierlei Botschaften: ein Sicherheits- und ein Komfortversprechen. Sie signalisieren, dass sie die Passagiere auch in einer Krisensituation sicher von A nach B bringen, und versprechen, dass trotz der Raumknappheit ein Maximum an Bequemlichkeit gewährleistet ist. Beides kommt in den Begrüßungsformeln sowie im gestischen Auftritt zum Ausdruck, trivial, jedoch kommunikativ schwer zu handhaben.

Warum ist, abgesehen von den Instruktionen, die Begrüßung vor Beginn der Reise so wichtig?

Weil der Gast damit in einem neuen, merkwürdig ortlosen Raum verortet wird. Der Gruß enthält gleichsam die erste Gabe an den Gast. Damit wird dessen Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der vorübergehend Fliegenden ausgedrückt, einer befristeten, in der Regel anonymen Gemeinschaft: Die Reisenden werden auf ein abstraktes Wir-Gefühl verpflichtet. Mit dem Gruß wird also gleich zu Beginn eine Art Minimalvergemeinschaftung angesprochen, die sich nach der Landung sofort wieder löst.

Welche Folgen hat die räumliche Enge für das Verhalten dieser Gemeinschaft?

Der Aufenthalt in der Röhre, so können wir den Aufenthalt an Bord betrachten, impliziert eine Verengung des Handlungsraums, eine vorübergehende radikale Autonomieeinschränkung. Das kennen wir alles: Man muss angeschnallt bleiben, die Sitzlehnen müssen mit dem Nachbarn geteilt werden und vieles mehr. Diese Situation ist anthropologisch betrachtet ein Unding, dem man zwar zustimmt, aber ein Unding bleibt es. Käme nun eine Fluggesellschaft auf die Idee, die Boarding-Zeiten zu reduzieren, dann mag zwar betriebswirtschaftlich einiges dafür sprechen, aber sozialpsychologisch erscheint das problematisch.

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