Bildungsexperte Ludger Wößmann im Interview "Geld allein macht nicht schlauer"

Bildungsökonom Ludger Wößmann glaubt, dass Chancengleichheit in Deutschland nur mit einem grundlegenden Umbau des Bildungssystems möglich ist, der mehr Wettbewerb unter den Schulen und ein längeres gemeinsames Lernen der Schüler ermöglicht.

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Ludger Wößmann Quelle: ifo Institut

Sie haben zwei Kinder, die bald eingeschult werden. Machen Sie sich Sorgen um deren Bildung?

In der Tat muss in Deutschland viel passieren, damit das Bildungssystem besser wird. Zwar gibt es ein paar Hoffnungsschimmer: In Hamburg will die schwarzgrüne Regierung eine sechsjährige Grundschule einführen und damit ein längeres gemeinsames Lernen ermöglichen. Andere Bundesländer wollen ihr dreigliedriges durch ein zweigliedriges Schulsystem ersetzen. Und über bundesweit einheitliche Abschlussprüfungen wird wenigstens schon diskutiert. Aber die meisten Reformanstrengungen verlaufen nach wie vor im Sande. Der jüngste Bildungsgipfel etwa war eine Farce.

Immerhin wurde auf dem Bildungsgipfel festgelegt, den Anteil der Bildungs- und Forschungsausgaben auf zehn Prozent des BIP zu erhöhen…

Moment! Man hat zwar beschlossen, dass es mehr Geld geben soll, aber nicht, wer es bereit stellen muss. Und das Ganze ist ziemlich schwammig formuliert: Man hat das Ziel nicht in Euro ausgedrückt und kann sich deswegen wahrscheinlich ziemlich leicht gesund rechnen. Außerdem wäre es wichtiger, zu schauen, wie viel Geld konkret pro Schüler oder Student zur Verfügung steht. Und schlussendlich glaube ich, dass Geld allein niemanden schlauer macht, wenn wir nicht das System ändern.

Was bestärkt Sie in dieser Annahme?

Das haben die Pisa-Studien und andere internationale Vergleiche in den letzten Jahren deutlich gezeigt. Vorher haben alle gedacht, wir hätten das beste Bildungssystem der Welt – heute müssen wir akzeptieren, dass das keineswegs so ist. Und das hat nicht in erster Linie mit dem Geld zu tun, das wir ausgeben, oder damit, wie groß die Schulklassen sind.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat auf dem Bildungsgipfel selbst die Parole ausgegeben, Deutschland zur „Bildungsrepublik“ umzubauen. Was bedeutet das?

Damit erweitert sie das Motto von Ludwig Erhard: Wohlstand für alle heißt heute Bildung für alle. Damit die Menschen die soziale Marktwirtschaft akzeptieren, muss Aufstieg durch Bildung möglich sein, müssen alle die gleichen Startchancen haben. Leider hängt aber in Deutschland der Bildungserfolg ganz entscheidend vom Elternhaus ab. Für viele ist der Zug für einen erfolgreichen Lebensweg abgefahren, wenn sie 18 werden und ihr Leben selber in die Hand nehmen können.

Über die Frage, wie sich das ändern lässt, wird hierzulande heftig gestritten. An welchen Wegweisern sollten wir uns orientieren?

Es ist wichtig, evidenzbasiert zu handeln – und dabei helfen internationale Vergleiche sehr. Nur dank fundierter Studien wird den Konservativen langsam klar, dassein längeres gemeinsames Lernen niemandem weh tut und das dreigliedrige System doch nicht so gut ist; gleichzeitig merken die Linken so, dass eine klare Leistungsausrichtung und mehr Wettbewerb gerade Kindern aus benachteiligten Schichten gut tun. Diese Annäherung zwischen beiden Seiten macht Reformen leichter. Erst nach Pisa hat zum Beispiel die Hälfte der Bundesländer, die keine zentralen Abschlussprüfungen hatte, in den letzten vier Jahren zentrale Bestandteile im Abitur eingeführt.

Hilft uns unser föderales Bildungssystem bei der Suche nach den besten Konzepten?

Ein föderales Bildungssystem ist dann sinnvoll, wenn es einen Wettbewerb der Systeme in den Ländern bewirkt. In Deutschland gibt es allerdings die Kultusministerkonferenz, in der zumeist das langsamste Rad am Wagen die Geschwindigkeit bestimmt. Auch beim Bildungsgipfel haben landes- und regionalpolitische Eitelkeiten gute Ergebnisse verhindert. Außerdem kann der Wettbewerb nur funktionieren, wenn man eine gute Informationsgrundlage hat – und die bilden zum Beispiel die Pisa-Ländervergleiche, die die Kultusminister jetzt wieder abschaffen wollen. Das finde ich sehr bedenklich.

Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund den jüngsten Pisa-Ländervergleich?

Da finde ich einen Befund ganz erstaunlich, der bisher kaum diskutiert wird: Es ist systematisch so, dass die schwächsten Pisa-Länder aus dem Jahr 2000 bis heute am meisten aufgeholt haben. Die Spitzenreiter aus 2000 haben sich dagegen auf ihren Lorbeeren ausgeruht. Hier zeigt sich die Macht von Pisa: Bei den Landesregierungen, die am schlechtesten abschneiden, entsteht ein gewaltiger politischer Druck, endlich etwas zu ändern und besser zu machen.

Wer steht einer grundlegenden Reform noch im Weg?

Oft sind es die Lehrerverbände – etwa wenn es um stärkeres privates Engagement im Bildungsbereich geht. Der Philologenverband, der die Gymnasiallehrer vertritt, fürchtet sich davor, an der frühen Aufteilung der Schüler etwas zu verändern und versucht mit aller Macht, wissenschaftliche Erkenntnisse zu torpedieren. Das sind keine pädagogischen Wahrheiten, die die Verbände da verbreiten, sondern oft reine Interessenpolitik.

Sie zitieren oft Finnland als positives Beispiel: Dort ist das Leistungsniveau sehr hoch, während gleichzeitig die Leistungsunterschiede klein sind. Wie schaffen die Finnen das?

In Finnland lernen alle Kinder viel länger unter einem Schuldach – das reduziert die Unterschiede. Außerdem gibt es eine viel ausgeprägtere individuelle Förderung: Wenn einzelne Schüler hinterher hinken, dann hilft ihnen ein Zusatzlehrer, wieder zum Rest der Klasse aufschließen. Das Beispiel beweist, dass es durchaus möglich ist, ein sehr hohes Leistungsniveau zu erzielen ohne eine große Streuung der Leistungen in kauf nehmen zu müssen.

Sie sprechen sich nicht nur für längeres gemeinsames Lernen und eine Abkehr vom dreigliedrigen Schulsystem, sondern auch für mehr Wettbewerb unter den Schulen aus. An welchem Land könnte Deutschland sich dabei orientieren?

Etwa an den Niederlanden, die sehr stark auf Privatinitiative setzen. Drei Viertel der Schüler gehen auf private Schulen, die gleichzeitig vom Staat finanziert werden. So haben die Eltern mehr Wahlmöglichkeiten und das zwingt die Schulen dazu, sich gute Konzepte einfallen zu lassen. Gleichzeitig gibt es keine Diskriminierung der ärmeren Familien, da auch an den privaten Schulen keine Schulgebühren anfallen. Studien zeigen, dass in solchen Systemen nicht nur die Leistungen insgesamt besser werden, sondern vor allem die Kinder profitieren, die in bildungsfernen Schichten aufwachsen.

Wie finanzieren sich private Schulen eigentlich hierzulande?

Da gibt es Unterschiede zwischen den Bundesländern. Eine grobe Regel ist, dass Schulen in freier Trägerschaft drei Jahre gar keine öffentliche Förderung bekommen und der Staat ihnen danach 70 Prozent ihrer Personalkosten ersetzt – aber keine Sachkosten. Das führt dazu, dass nur sehr wenige neue Schulen entstehen – denn wie will man sich drei Jahre lang ohne öffentliche Mittel finanzieren? Weil auch danach nur ein Teil der Kosten ersetzt wird, müssen diese Schulen Schulgebühren erheben – und das wiederum führt dazu, dass nur Eltern mit höheren Einkommen sich diese Schulen leisten können.

Wie sähe ein besseres Modell praktisch aus?

Denkbar ist zum Beispiel, dass der Staat jeder Schule in freier Trägerschaft den gleichen Satz pro Schüler überweist, den auch die öffentlichen Schulen bekommen, wenn sie sich unter die staatliche Schulaufsicht stellt und bundeseinheitlichen Prüfungen unterzieht. Wie die Schüler auf die Prüfungen vorbereitet werden, bleibt aber jeder Schule überlassen – sie müssen sich also dem Wettbewerb stellen und eigene Konzepte entwickeln.

Können die öffentlichen Schulen dann noch mithalten?

Sie müssen! Sonst werden sie schnell merken: Wenn wir keinen guten Unterricht machen, ziehen die Eltern die Schüler ab. Das ist zwar unbequem, aber zugleich ein Ansporn. Studien zeigen, dass öffentliche Schulen besser werden, wenn es in ihrem Land mehr Schulen in privater Trägerschaft gibt.

Angenommen, eine Schule überzeugt mit ihrem Konzept und bekommt mehr Bewerbungen als sie Plätze hat. Wie soll sie dann entscheiden, welche Schüler aufgenommen werden?

Das ist ein wichtiger Punkt. Zunächst mal sollte man festlegen, dass private Schulen, die öffentlich voll finanziert sind, keine eigenen Schulgebühren erheben dürfen. Außerdem ist wichtig, dass die Schule sich nicht nur die besten Schüler auswählen darf. Sonst gäbe es das Risiko, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten es sehr schwer hätten, auf diese Schulen zu kommen. Hier müsste – solange die Schule nicht schnell genug wachsen kann – aus meiner Sicht das Los entscheiden, welche Schüler aufgenommen werden.

Abgesehen vom Schulsystem: Auf welchen anderen Bildungs-Baustellen muss etwas passieren?

Neuere Studien belegen, wie wichtig eine gute pädagogisch-fachliche Ausbildung der Lehrer ist. In Deutschland lernen angehende Lehrer im Studium nicht das, was sie hinterher im Job brauchen. Auch hier blockieren Interessengruppen und Eitelkeiten eine Reform. Allerdings weiß die Wissenschaft auch noch nicht genug darüber, was einen guten Lehrer konkret ausmacht und wie er genau das erlernt. 

Gibt es weitere offene Fragen, die Wissenschaftler bisher nicht beantworten können?

Ja. Zum Beispiel, ob Fremdsprachenunterricht ab der ersten Klasse oder altersgemischte Klassen gut für die Schüler wären und ob Projektunterricht besser ist als Frontalunterricht. Darüber wissen wir noch nicht viel. Außerdem gibt es bisher noch keine aussagekräftigen und fairen Schulrankings, an denen man sich orientieren kann.

Wenn demnächst Ihr Kind eingeschult wird, wie würden Sie diese Fragen nach Gefühl beantworten?

(lacht) Ehrlich gesagt glaube ich, dass ein Wissenschaftler nicht seine Bauchgefühle in der Öffentlichkeit diskutieren sollte. Solche Bauchgefühle haben wir alle, aber es ist wichtig, dass wir davon wegkommen und auf empirische Ergebnisse schauen. Spekulieren hilft keinem weiter.

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