Das Bier steht im Kühlschrank. Einfach rausnehmen, Strich auf der Liste hinterlassen und anstoßen. Hunger? Die vorbereiteten Gerichte stehen gleich daneben, einfach heiß machen und hinsetzen, die anderen haben auch Hunger. In der Kontorküche steht außerdem die Kaffeemaschine, falls die Augen zufallen wollen in einem der Fauteuils, die Ruhe und Gemeinschaft in einem versprechen. Und immer wieder die gleichen Gesichter, man trifft einander, tauscht sich aus. Ein Leben wie in der WG. Allerdings mit Fitnessraum, eigenem Badezimmer und ohne die lästige Frage, wer abwäscht oder das Klo putzt.
Henri heißt dieser Ort in Hamburg, der seit einigen Wochen Gäste empfängt, die eines eint: Sie bleiben länger. Denn sie arbeiten in der Hansestadt, haben aber ihr Zuhause in einer anderen Stadt.
Moderne Wanderarbeiter, beschäftigt als Unternehmensberater, IT-Spezialisten, Ingenieure oder Spezialisten im Handwerk, suchen ein Heim neben der Heimat. Das Reservierungsportal HRS zählt in Großstädten bei Übernachtungen schon zehn Prozent Langzeitgäste. Jeder dritte davon wiederum bucht für einen Monat oder länger. Der Nomade der Arbeitswelt richtet sich ein – im Boardinghaus.
Hotels und Boardinghäuser
„Das Segment wächst“, sagt Stephan Gerhard, CEO des Beratungsunternehmens Treugast. Und dieses Feld überlassen die auf Hotelbetriebe spezialisierten Gastronomen nicht länger den reinen Betreibern von Boardinghäusern wie der Gruppe Adina. So eröffnet das Kölner Hotel Savoy 2014 in Bahnhofsnähe ein Boardinghaus. Die Arcona-Gruppe, die neben eigenen Hotels auch fünf Steigenberger Hotels betreibt, ist ebenfalls bereits mit drei Longstay-Häusern am Markt. „Wir sehen eine zunehmende Tendenz hin zu Apartment-Hotels und beobachten, dass die Grenzen zwischen Boardinghäusern und Hotels immer häufiger verschmelzen“, sagt Tobias Ragge, Geschäftsführer von HRS.
Internationale Hotelketten, die auf ihren Heimatmärkten schon umfangreich Boardinghäuser betreiben, stecken in Deutschland noch in den Startlöchern. Die amerikanische Hotelgruppe Hyatt verfolgt in den USA erfolgreich Boardinghaus-Konzepte, in Deutschland bietet bislang nur das Hamburger Hyatt Boardingzimmer, dabei soll es aber nicht unbedingt bleiben. „Wo immer die Gegebenheiten stimmen und es zulassen, verfolgen wir das Konzept, Wohnraum für Langzeitgäste zu schaffen“, sagt Fred Hürst, Area Vice President Hyatt Central Europe.
Boardinghäuser - Was Langzeitgäste wissen sollten
In allen deutschen Großstädten sind die Spezialisten für Boardinghäuser wie Derag, Adina oder Arcona vertreten, vereinzelt gibt es sie aber auch in kleineren Städten in der Nähe großer Unternehmen.
Mehr Platz im Zimmer. Neben Annehmlichkeiten wie einer kleinen Kaffeemaschine oder einem Wasserkocher und Notwendigkeiten wie WLAN ist es vor allem die Möglichkeit, sich im Übergangsheim auszubreiten. Die meisten Zimmer sind nicht kleiner als 30 Quadratmeter.
Gegenüber klassischen, reinen Hotelbetrieben sind die Kosten für Boardinghäuser deutlich geringer. Dafür wird das Zimmer nicht täglich gereinigt und weniger Mitarbeiter stehen zur Verfügung. In den wichtigsten Städten kosten gute Boardinghäuser etwa ab 100 Euro pro Nacht. Je länger der Aufenthalt, desto größer wird der Abschlag auf die Rate.
Anbieter wie Derad oder Adina pflegen eigene Web-Seiten. Die großen Buchungsportale hrs.de und hotel.de bieten ebenfalls die Möglichkeit, langfristige Buchungen vorzunehmen.
Neue Gastgeber
Auch hinter dem Henri steckt eine Hotelgruppe, die man auf Anhieb nicht mit Selbstbedienung und Flaschenbier in Verbindung bringt. Es ist ein Schwesterbetrieb des Luxushotels Louis C. Jacob an der Elbchaussee, Eigner ist Horst Rahe, der wiederum als Geschäftsführer der Deutschen Seerederei über die Beteiligungen wacht, zu denen unter anderem die A-Rosa-Hotels gehören. Für Jost Deitmar, Direktor des Louis C. Jacob und Initiator des Henri in der Bugenhagenstraße nahe der Innenalster und parallel zur Mönckebergstraße, ist das Projekt Neuland. Und zunächst auch etwas, das den Usancen der Luxushotellerie komplett widerspricht. „Wir können die Differenz aus größerem Platzangebot in den Zimmern und niedrigen Preisen in dieser Lage nur ausgleichen, weil ein Boardinghaus mit deutlich weniger Personal auskommt.“
Dass vieles, was in der Hotellerie Standard ist, in einem Boardinghaus nicht zwingend nötig, auch teils nicht erwünscht ist, musste sich Deitmar mehrfach sagen lassen. Christian Buer, Professor für Tourismus- und Hotelmanagement an der Wirtschaftsfakultät der Hochschule Heilbronn, untersuchte im Auftrag von Deitmar die Chancen für ein Boardinghaus in der Hamburger Innenstadt. Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Untersuchung: Anders als bei klassischen Hotels ist vor allem die Nähe zu den vorübergehenden Arbeitgebern entscheidend.
Bedarf ist vorhanden, Investoren zögern
So ist der Bedarf in Städten wie Ingolstadt oder Heilbronn durchaus vorhanden, dennoch zögern Investoren, entsprechende Immobilienprojekte anzustoßen, denn neben den deutlich geringeren Durchschnittspreisen gegenüber normalen Hotels haben reine Boardinghäuser einen Nachteil: Die Stammgäste verlassen das Haus am Wochenende, mit etwas Pech steht es leer.
Christoph Hoffmann ist Geschäftsführer der 25hours-Hotels, die auch klassische Hotels wie das Hafencity in Hamburg, das Goldman in Frankfurt und demnächst das Bikini in Berlin an der Gedächtniskirche betreiben. Zurzeit wird das 25hours in Wien fertiggestellt. Mehr als 30 der rund 220 Zimmer dort werden so ausgestattet sein, dass Langzeitgäste beherbergt werden können.
Einchecken mit der App
Dazu gehört oft eine eigene Küche. „Wir erwarten nicht, dass viele Gäste dort selber kochen werden“, sagt Hoffmann, doch die eigene Küche gehört momentan zu den Dingen, die neben mehr Platz als nötig gelten. Viel wichtiger, so Hoffmann, sei allerdings, dass der Gast seine Habseligkeiten nicht vorm Wochenende erst ausräumen und danach wieder einräumen muss. Deswegen werden künftig „Rolling Wardrobes“ angeboten, in die der Gast seine Kleidung und andere Gegenstände deponiert. Übers Wochenende werden sie in den Keller gerollt, und montags bei Anreise kommen sie wieder in das Zimmer. Damit entfällt für den Gast die Notwendigkeit, das Zimmer durchzubuchen, um Packstress zu vermeiden, gleichzeitig kann am Wochenende anderweitig vermietet werden.
In Zukunft soll für Langzeitgäste auch das Einchecken via App auf dem Smartphone möglich sein, und der Zimmerschlüssel wird wie beim Einsteigen in ein Flugzeug mit Boardkarte auf dem Smartphone möglich sein. Der Gast soll fast heimkommen können wie in seinem echten Zuhause und seinen Schlüssel bereits in der Tasche tragen. Wer sich für ein mehrmonatiges Projekt in einem Boardinghaus einbucht, darf auch damit rechnen, dass er eigene Bilder aufhängen darf – die dann wiederum die normalen Hotelgäste sehen, die am Wochenende das Zimmer buchen.
Mehr Platz, weniger Service
Zimmer für Langzeitgäste in klassischen Hotelbetrieben bringen dem Gast einerseits ein höheres Maß an Service, schließlich kann er auf die Mitarbeiter zurückgreifen, die für den normalen Hotelbetrieb zugegen sind. Andererseits schätzen viele Gäste vor allem die Privatsphäre reiner Boardinghäuser. Luxushotels der höchsten Kategorie wie das Le Royal Monceau in Paris legen deswegen Wert auf eigene Zugänge und Flure für die Boardingsuiten. Kein Gast der vollständig ausgestatteten Wohnungen muss die belebte Hotelhalle passieren, um in sein Zimmer zu gelangen. „Welche Art von Betrieb Gäste bevorzugen, hängt davon ab, ob sie funktionsbewusst oder lifestylig orientiert sind“, sagt Christian Buer von der Uni Heilbronn.
In der Kontorküche des Henri wird derweil jeden Abend die Gratwanderung versucht zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Der Gastraum des Boardinghauses steht ausschließlich den Hausgästen offen, es treffen sich abends zwangsläufig häufig Menschen, die sich schon die Abende zuvor und am Abend davor dort gesehen haben. Direktorin Isabel Oberdorf bittet allabendlich zum „Abendbrod“, bei dem sie auf Wunsch Gäste miteinander bekannt macht, die zwar ein Haus teilen, aber keine Bekannten sind. Was sonst in Hotels erst abends an der Bar aufgehoben wird, die übliche Distanz und Diskretion, soll hier schon früher bei gemeinsamen Gesprächen am Tisch gelockert werden. „Wenn das so läuft, wie wir uns das vorstellen, dann denken wir, dass da eine Community entsteht“, hofft Jost Deitmar.