Otto Redenkämper schaut auf die Welt. Meist vom Balkonfenster in Gelsenkirchen-Buer aus. Da sieht er, was um ihn herum passiert, motzt Kinder an und hat zu allem und jedem eine Meinung. Manchmal trippelt die Inkarnation des Fenster-Rentners rüber zu Jupps Kiosk zu seinen Kumpels, die wie Otto selbstverständlich Fans von Schalke 04 sind. Und weil Otto weiß, wie es läuft, erklärt er der Welt auch ungefragt, wie sie tickt.
Alle paar Wochen, spätestens jeden Spieltag, hilft ihm sein Enkel, Ottos Gedanken „in dieses Internetz“ zu stellen: Ottos Revier. Meist geht es um Fußball. Wenn Otto andere Dinge durch den Kopf schießen, tippt er seine Ansichten in seinen Twitter-Account, etwa zur ARD-Inszenierung „Terror“ dieser Tage.
Einsichten eines Fußballfans mit gesundem Menschenverstand – daran fanden die Fischer Verlage aus Frankfurt Gefallen. So fanden Ottos Gedanken 2014 unter dem Titel „Dat Leben is kein Trallafitti - Der Fenster-Rentner erklärt die Welt“ ihren Weg in ein gedrucktes Buch.
Bücher, TV, Streaming? Diese Medien finden die Deutschen unverzichtbar
Nur wenige Erwachsene in Deutschland können sich ein Leben ohne Bücher oder Fernsehen vorstellen. Das ergab eine repräsentative Online-Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur aus dem Januar 2016. Andere Unterhaltungsmedien hielten die Befragten dagegen eher für entbehrlich.
Nur eine Minderheit von 13 Prozent der Befragten findet gedruckte Bücher verzichtbar. Elektronische Bücher (zum Beispiel Kindle oder Tolino) halten 41 Prozent für verzichtbar.
14 Prozent der Befragten können sich ein Leben ohne das klassische Fernsehen vorstellen.
Schon wesentlich mehr können sich vorstellen, auf Musik-CDs zu verzichten: Rund ein Fünftel (21 Prozent) der Befragten fand CDs verzichtbar. Hörbücher auf physischen Tonträgern wie CDs spielen für 46 Prozent keine allzu wichtige Rolle.
Ein Leben ohne Kinobesuche ist für 23 Prozent vorstellbar.
Auf Spielfilme oder Serien von DVD würden 24 Prozent der Befragten verzichten.
Weniger wichtig finden die Erwachsene laut der YouGov-Umfrage Online-Videotheken. 38 Prozent könnten ohne das Streaming von Serien und Filmen (etwa via Netflix, Amazon, Maxdome, Watchever) leben, 40 Prozent ohne Musik-Streaming (zum Beispiel via Spotify oder Apple).
Eindeutig ist die Tendenz, wenn man nach den Altersgruppen schaut: So finden bei den 18- bis 24-Jährigen immerhin 21 Prozent das Fernsehen verzichtbar, bei den Menschen über 55 sind es dagegen nur 10 Prozent.
Film-Streaming finden dagegen die Leute ab 55 kaum relevant: 50 Prozent können darauf verzichten, wie sie angaben. Bei den Jüngeren (zwischen 18 und 24 Jahren) sind es dagegen nur 27 Prozent, die es missen könnten. In der Altersgruppe 25 bis 34 Jahre sind es sogar nur 24 Prozent
Wenn sich von Mittwoch an in Frankfurt die Verlagsmitarbeiter, Buchhändler, Autoren und Leser durch die Gänge der Buchmesse drängeln, passieren sie immer öfter gedruckte Werke, die ihre Heimat ursprünglich ausschließlich im Internet hatten. Blogs, Twitter-Accounts oder Webseiten mausern sich zu einer beliebten Quelle der Inspiration für Buchverlage, die daraus Taschenbücher, aufwändig fotografierte Rezeptbände oder Magazine herstellen.
Sie werden ihr Scherflein beitragen zu den steigenden Umsätzen, mit denen die Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers rechnet. Bis 2019 schätzt das Unternehmen einen Anstieg von 9,3 Milliarden Euro in 2015 auf rund 9,6 Milliarden Euro in Deutschland – in Zeiten, in denen kostenfreie Angebote im Internet mit kostenpflichtigen Büchern um die Aufmerksamkeit der Leser buhlen.
Für Torsten Rohde begann es 2012 bei der Weihnachtsfeier, als er sich mittenmang der Familie mit einem Freund per WhatsApp über die Schrullen von Oma, Tante und Mutter austauschte. Am 16. Januar 2013 veröffentlichte der Kaufmann den ersten Tweet unter dem Namen Renate Bergmann.
Der Lotto-Wickbach hat neulich erwähnt, dass er rote Jacken schick findet. Nu gucken Se sich die ollen Weiber an… pic.twitter.com/i8JEKVYFqw
— Renate Bergmann (@RenateBergmann) 18. Oktober 2016
Heute, fast vier Jahre später, blickt Rohde alias Bergmann schon auf das fünfte Buch zurück. Am 21. Oktober erscheint „Wir brauchen viel mehr Schafe.“
Mitgehört und aufgeschrieben
Von so viel Erfolg ist Erkan Dörtoluk noch ein Stückchen entfernt. Anfang August erschien die erste Sammlung von Tweets, die Dörtoluk unter dem Titel „Du hast mir das Kind gemacht, nicht ich: Mitgehört im öffentlichen Nahverkehr“ zusammengestellt hat. Der Fotograf fährt mit spitzen Ohren in Düsseldorf im öffentlichen Nahverkehr mit und belauscht, worüber sich Menschen unterhalten. Bizarre Dialoge, die er wertfrei in maximal 140 Zeichen festhält und den Sprechenden Namen und ein Alter zuweist.
Unter rheinbahn_intim amüsiert er auf Twitter damit inzwischen mehr als 32.000 Follower.
"Der Typ, dem wo Primark gehört ist gestorben."
— rheinbahn intim (@rheinbahn_intim) 13. Juli 2015
"Krass. Sterben... könnt ich irgendwie nicht."
(Lisa ,15, Jenny, 14)
Dass das Buch überhaupt gedruckt wurde, scheint Dörtoluk noch heute in Erstaunen zu versetzen. „Ich habe nie an eine Verwertung gedacht. Mir geht es um den Inhalt“, sagt der Chronist des Alltagswahnsinns. Auf einer Veranstaltung für Twitternutzer sprach ihn mal ein Besucher an und bat, ihm die besten Tweets auszudrucken und einzubinden, er wolle das gerne verschenken und dafür sogar zehn Euro zahlen. „Ich habe mich dann informiert, wie man einem Verlag ein Buch vorschlägt und ein Exposé an mehrere gesendet“, erinnert sich Dörtoluk. Inzwischen hat er seine erste Lesung hinter sich – in einer Straßenbahn, versteht sich. Weitere sollen folgen.
Während Dörtoluk das Leben der anderen skizziert, berichten Patricia Cammarata, Maximilian Buddenbohm und Christian Hanne mitten aus ihren eigenen. Die Berlinerin Cammarata hat binnen zehn Jahren mehr als 1000 Blogbeiträge unter dasnuf.de verfasst, in denen sie ihren Alltag als IT-Projektleiterin und dreifache Mutter mit Humor beschreibt. Im Jahr 2015 wurden die besten 65 davon unter dem Titel „Sehr gerne, Mama, du Arschbombe – Tiefenentspannt durch die Kinderjahre“ veröffentlicht.
"Lenni wollte mich damit ärgern, dass seine Mama cooler ist als Du weil sie Architektin ist… aber dann hab ich ihn mit Deinem Buch gehauen…"
— Patricia Cammarata (@dasnuf) 14. Oktober 2016
Zu ergründen, was gefällt und was nicht – da hatte Cammarata einen Vorteil gegenüber den Autoren, die im stillen Kämmerlein vor sich hinbrüten. Sie nutzte die Technik, die ein Blog bereithält. „Beiträge, die sehr hohe Zugriffszahlen hatten, habe ich verschlagwortet, alle in ein Wiki übertragen, dort überarbeitet, weiter kategorisiert und dann Kapitel daraus generiert. 80 Prozent der Arbeit waren sozusagen schon getan“, erzählt Cammarata. Die restlichen 20 Prozent waren aber immer noch so viel Arbeit, dass sie das Angebot für ein weiteres Buch vorerst ausgeschlagen hat: „Ich sage dann immer: 2025 gibt es den zweiten Teil! Das schaffe ich bestimmt.“
Die beliebtesten Bücher seit Erfindung des Buchdrucks
Paulo Coelho: Der Alchimist
(Diogenes, 172 Seiten, 9,90 €)
J. D. Salinger: Der Fänger im Roggen
(Kiepenheuer & Witsch, 272 Seiten, 15 €)
Dan Brown: Sakrileg
(Bastei Lübbe, 624 Seiten, 9,99 €)
Henry Rider Haggard: Sie
(Diogenes Verlag)
C. S. Lewis: Der König von Narnia
(Ueberreuter, 174 Seiten, 12,95 €)
Agatha Christie: Und dann gabs keines mehr
(FISCHER Taschenbuch, 224 Seiten, 7,95 €)
Cao Xueqin: Der Traum der roten Kammer
(Europäischer Universitätsverlag, 2195 Seiten, 49 €)
Antoine de Saint-Exupery: Der kleine Prinz
(Rauch, 103 Seiten, 14,90 €)
J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe
("Der Herr der Ringe"-Gesamtausgabe, Klett-Cotta, 1292 Seiten, 49,95 €)
Charles Dickens: Die Geschichte zweier Städte
(Insel Verlag, 505 Seiten, 13,00 €)
Die meistverkauften Bücher aller Zeiten in allen Sprachen. Nur Belletristik, ohne Comics, Heilige Schriften wie Bibel oder Koran und andere
ARD; Stand: 20.06.2013
Christian Hanne hat für „Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith“ hingegen zum größten Teil neue Geschichten aufgeschrieben, die zuvor nicht in seinem Blog familienbetrieb.info zu lesen waren. Die Erlebnisse der Familie Hanne, die mit betriebswirtschaftlichem Blickwinkel humorvoll exklusiv für das Buch zusammengefasst werden, will Hanne bis auf weiteres auch nicht im Blog veröffentlichen. Im Gegensatz zu Dörtoluk, der im Prinzip die frei verfügbaren Inhalte lediglich zusammenfasst und drucken lässt, möchte Hanne dem Buchkäufer etwas bieten, dass nur dort zu finden ist.
Die Mühe für die neuen Texte forderten allerdings ein Opfer. „Der Blog kam in der Zeit etwas zu kurz“, räumt Hanne ein. Sprachlich und stilistisch sei das Buch jedoch so gehalten wie die digitalen Texte. Dennoch habe das Buch eine höhere Wertigkeit. „Es ist eine andere Form der Anerkennung, schließlich investiert der Verlag auch Geld.“
Familienglück und Festival-Food
Auch Maximilian Buddenbohm erzählt seit 13 Jahren aus seiner Jugend an der Ostsee und dem Familienleben, inzwischen unter der Domain herzdamengeschichten.de. Vier Bücher sind seit 2011 erschienen. Trotz des Erfolgs erkennt der in Hamburg als Controller arbeitende Buddenbohm Vor- und Nachteile des Blogs, der ins Buch wandert. „Die Arbeit ist aufwändiger, es dauert elend lange, bis es erscheint, man muss sich mit zig Leuten abstimmen, man kann es danach nicht mehr bearbeiten, man kann die Inhalte nicht beliebig recyceln.“
Finanzielle Sorgen würden die Bücher auch nicht lösen: „Geld ist als Motivation nicht entscheidend, solange man keinen Bestseller schreibt. Ruhm ist tatsächlich ein Argument, man erreicht per Buch immer noch andere Leser als per Blog.“ Auch Erkan Dörtoluk sieht vor allem zunächst mal die Bestätigung. Aus dem Hobby wird in den seltensten Fällen eine nennenswerte Einnahmequelle, geschweige denn ein Fulltime-Job. 6000 mal hat Dörtoluk sein Sammelsurium bizarrer Dialoge aus der Bahn verkaufen können. "Es ist ein typischer Geschenkartikel", Otto Redenkämpers "Enkel", der die Dinge "in dieses Internetz" stellt und dem Buchverlag das Manuskript übersandt hat, geht weiterhin seiner normalen Arbeit in Dülmen nach.
Ich: "Kannst du dich bitte mal etwas besinnen?"
— Max.Buddenbohm (@Buddenbohm) 16. Oktober 2016
Sohn I: "JA, OMMMMMMMM, EY!"
Die Pubertät wird so schön werden.
Dennoch haben die Verlage schon lange das Potential erkannt, das in der Kreativität und der Kompetenz steckt, die viele Menschen neben dem Beruf in ihrer Freizeit entfalten. Vor allem bei nutzwertigen Themen ist der Sprung oft leicht. Der Verlag Gräfe und Unzer hat bereits 2008 mit der Autorin Nicole Stich das erste Buchprojekt veröffentlicht. Nun erschien mit "La Veganista: Mein selbstgemachter Power-Vorrat" das sechste Buch von Just, die mit ihrem Blog vegan-sein.de erfolgreich ist.
Anteil der Internet-User, die Soziale Medien nutzen
Der Spitzenreiter ist mit 90 Prozent Jordanien. In keinem anderen Land sind so viele der Internet-User in Sozialen Netzwerken aktiv.
Auf dem Inselstaat Indonesien benutzen 89 Prozent Social Meedia
In der Türkei und in Venezuela bewegen sich 88 Prozent der Internet-User bei Facebook und Co.
Russland und Venezuela liegen mit 85 Prozent Social-Meedia-Quote gleich auf.
Von den Israelis mit Internetzugang haben 76 Prozent einen Account bei einem Sozialen Netzwerk.
Im Heimatland der meisten Social Meedia Unternehmen haben gerade einmal 71 Prozent einen Account.
Damit sind die Amerikaner aber immer noch besser vernetzt, als die Chinesen. Bei ihnen liegt die Social-Meedia-Quote bei gerage einmal 63 Prozent.
Selbst unsere französichen Nachbarn haben mit 57 Prozent Social-Meedia-Quote einen höheren Wert, als die ...
... Deutschen. Hierzulande haben gerade einmal die Hälfte (50 Prozent) aller Internet-User einen Account bei einem Sozialen Netzwerk. Damit bildet Deutschland das Schlusslicht der verglichenen 40 Staaten.
Nur Pakistan hat mit 50 Prozent eine genau so geringe Social-Meedia-Quote.
Für den ehemaligen Profikoch Stevan Paul hängen sowohl die Produktion von Kochbüchern als auch die Arbeit an seinem Blog nutriculinary.com zwingend zusammen: „Ich trenne da nicht so viel.“ Das Blog helfe, die Bücher zu verkaufen, und was er nicht auf dem endlichen Platz zwischen zwei Buchdeckeln unterbringe, fände Platz auf seinem Blog. Dabei ist die Fülle an kulinarischen Blogs für ihn inzwischen selbst Inspiration für Bücher wie das „Open Air - Das Festival- & Camping-Kochbuch“, „Auf die Hand - Sandwiches, Burger & Toasts, Fingerfood & Abendbrote“ oder das „Craft Beer Kochbuch“, das er zusammen mit Torsten Goffin veröffentlichte. Goffin ist Autor des Blogs allemanfang.tumblr.com und die Kooperation zum Bierkochbuch entstand unmittelbar aus der Arbeit.
Ein Bierkochbuch – und man würde zu gerne wissen, wie sich wohl Fenster-Rentner Otto Redenkämper aus Gelsenkirchen-Buer die Augen reibt, und was die literarische Figur davon hält, das man mit dem lecker Pilsken jetzt auch noch kocht.