
Sie kommen aus der Schule und lernen. Sie sagen Treffen mit Freunden ab und lernen. Für sie zählt nur die Note Eins in jedem Test und ein sehr gutes Abitur. Spielen? Spaß? Gute Laune? Selten. Was auf den ersten Blick nach vorbildlichen Schülern klingt, bereitet vielen Eltern Sorgen. Auch der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort hat lange gerätselt, was viele Schüler so runterzieht. Seine Diagnose: Burnout.
„Ich habe vor fünf Jahren zunehmend depressive und erschöpfte Kinder gesehen, die nicht in die normale Kategorie der Depressionen passten“, berichtet Schulte-Markwort, der am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf lehrt und arbeitet. Mit seinen Erfahrungen hat er das Buch „Burnout-Kids“ verfasst, das gerade erschienen ist. An diesem Donnerstag ist er Gast beim Deutschen Lehrertag in Leipzig, um die Pädagogen für das Thema zu sensibilisieren.
In acht Schritten zum Burn-Out
Es beginnt alles mit dem Wunsch, sich zu beweisen. Dieser aber treibt einen in den Zwang, sich noch mehr anzustrengen, noch mehr zu leisten bzw. es allen recht zu machen. Man nimmt jeden Auftrag an, sagt immer seltener Nein. Jettet von Termin zu Termin. Und nimmt abends Arbeit mit nach Hause.
(Quelle: Lothar Seiwert, Zeit ist Leben, Leben ist Zeit)
Man nimmt seine eigenen Bedürfnisse nicht mehr wahr. Schläft zu wenig, isst hastig oder gar nichts. Sagt den Kinobesuch mit Freunden ab.
Man missachtet die Warnsignale des Körpers, wie Schlafstörungen, Verspannungen, Kopfschmerzen, hoher Blutdruck, flaches Atmen, Konzentrationsschwäche.
Um wieder funktionieren zu können, greifen manche zu Drogen wie Schmerzmitteln, Schlaftabletten, Alkohol, Aufputschern.
Das eigene Wertesystem verändert sich. Die Freunde sind langweilig, der Besuch mit dem Kollegen im Café verschwendete Zeit. Die Probleme mit dem Partner oder Familie nimmt man einfach nicht mehr wahr. Man zieht sich zurück aus gesellschaftlichen Kontakten. Und endet oft in völliger Isolation.
Die Persönlichkeit verändert sich. Alles dreht sich nur noch darum, zu funktionieren, zu arbeiten. Gefühle und Emotionen werden verdrängt. Man verliert den Humor, reagiert mit Schärfe und Sarkasmus, empfindet Verachtung für Menschen, die das Faulsein genießen. Man verhärtet.
Man verliert das Gefühl für die eigene Persönlichkeit. Spürt nur noch Gereiztheit, Schmerzen, Erschöpfung, Überlastung, Angst vor einem Zusammenbruch. Und sonst nichts mehr. Keine Freude, keine Fröhlichkeit, keine Neugierde. Der Mensch funktioniert wie eine Maschine. Die Seele erstarrt.
Die wachsende innere Leere, genährt von dem Gedanken "Wenn ich nicht arbeite, was bin ich dann?", führt zur Depression, zur völligen Erschöpfung, zum Zusammenbruch, zum Ausgebranntsein.
Den erfahrenen Kinder- und Jugendpsychiater habe man bewusst als Hauptredner zu der Tagung eingeladen, sagt Udo Beckmann. Er ist Bundesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung, der den Lehrertag organisiert. „Viele Lehrer haben Veränderungen bei den Schülerinnen und Schülern bemerkt“, bestätigt er. „Die Kollegen sehen, dass Kinder oft schon frühzeitig überfordert werden.“ Das Abitur sei der ersehnte Abschluss, das sorge für Druck auf die Kinder - immer häufiger schon in der Grundschule.
Können Sie diese PISA-Aufgaben lösen?
An Manuelas Schule führt der Physiklehrer Tests durch, bei denen 100 Punkte zu erreichen sind. Manuela hat bei ihren ersten vier Physiktests durchschnittlich 60 Punkte erreicht. Beim fünften Test erreichte sie 80 Punkte. Was ist Manuelas Punktedurchschnitt in Physik nach allen fünf Tests?
a) 64 Punkte
b) 72 Punkte
c) 68 Punkte
Fünf Seiten eines Würfels von drei Zentimetern Kantenlänge werden rot angestrichen, die sechste Fläche bleibt ohne Anstrich. Wie viel Prozent der Würfeloberfläche sind rot?
a) Etwa 60 Prozent
b) Etwa 83 Prozent
Wie tief ist der Tschadsee heute?
a) Etwa 15 Meter
b) Etwa fünfzig Meter
c) Etwa zwei Meter
Wie verändert sich das Gewicht auf der Waage wenn man beim Wiegen schwungvoll in die Knie geht?
a) Es ändert sich gar nichts an der Gewichtsangabe
b) Das Gewicht wird für diesen Moment höher angezeigt
c) Das Gewicht wird kurzzeitig geringer angezeigt
Die Temperatur im Grand Canyon reicht von unter 0 Grad bis über 40 Grad. Obwohl es sich um eine Wüstengegend handelt, gibt es in einigen Felsspalten Wasser. Wie beschleunigen diese Temperaturschwankungen und das Wasser in den Felsspalten die Zersetzung des Gesteins?
a) Gefrierendes Wasser dehnt sich in Felsspalten aus
b) Gefrierendes Wasser löst warmes Gestein auf
c) Wasser kittet Gestein zusammen
Wie wirkt es sich aus, wenn Sie eine dunkle Sonnenbrille ohne UV-Schutz tragen?
a) Es gelangen mehr UV-Strahlen ins Auge als ohne Brille.
b) Es gelangen weniger UV-Strahlen ins Auge als ohne Brille.
c) Es gelangen genau so viele UV-Strahlen ins Auge wie ohne Brille.
Frage 1: a
Frage 2: b
Frage 3: c
Frage 4: c
Frage 5: a
Frage 6: a
Woher der Druck kommt? Seltener als vermutetet seien es die sogenannten Helikopter-Eltern, die ihre Kinder mit unzähligen Zusatzangeboten überfordern, sagt Schulte-Markwort. „Das sind vielmehr die Leistungsorientierungen, die wir in unserer Gesellschaft verankert haben, gekoppelt mit dem Gefühl der Kinder, wenn sie kein gutes Abitur schaffen, dann ist ihr Leben gelaufen.“
Zwei Kinder mit Burnout pro Woche
Schulte-Markwort schätzt, dass sich bei ihm im Schnitt etwa zwei betroffene Schüler pro Woche vorstellen. Das ergäbe allein in seiner Behandlung 500 Burnout-Kids. Valide Studien zum Phänomen gebe es noch nicht. Allerdings sagten 20 bis 30 Prozent der Schulkinder, dass sie sich erschöpft fühlten. Der 58-Jährige nimmt an, dass zwei bis drei Prozent von ihnen an Burnout leiden - Tendenz steigend.
Auch der Bundesverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie (BKJPP) verweist auf fehlende Statistiken zum Thema, bestätigt aber: Das Phänomen gibt es schon bei Kindern und Jugendlichen. „In unseren Praxen werden sehr oft Kinder wegen schulischer Belastung und Stress vorgestellt“, beschreibt der BKJPP-Vorsitzende Gundolf Berg die allgemeinere Tendenz. Die Kinder zeigten oft eine Mischung aus Symptomen wie Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Verstimmungen oder auch auffälligem Verhalten.
Lehrer wie Eltern sollten auf plötzliche Verhaltensänderungen achten, empfiehlt Schulte-Markwort. „Wenn Eltern über einen längeren Zeitraum das Gefühl haben, da stimmt etwas nicht, dann sollten sie zu einem Facharzt gehen.“ Bisher habe er allen Betroffenen helfen können, häufig unterstützt von Lerntherapeuten, die den Kindern andere Strategien beibrächten.
Für Schulte-Markwort kann nur eine gesamtgesellschaftliche Wertedebatte das Problem entschärfen. „Wir müssen uns fragen: Muss es wirklich immer mehr sein? Muss die Latte wirklich immer höher liegen?“ Zu der Debatte gehöre auch, dass Schule sich ändere. Seine Empfehlung: kleinere Klassen, mehr pädagogisches Rüstzeug für Gymnasiallehrer und mehr gegenseitige Hilfe unter den Lehrerkollegen.