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Revolutioniert Covid-19 das Schulwesen?

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Gnadenloser Bildungs-Darwinismus

Die Kinder absolvieren derzeit parallel zu Mathe und Deutsch eine extrem anspruchsvolle Bewährungsprobe ihrer Selbständigkeit. Sie müssen lernen, allein zu lernen und allein ihre Zeit einzuteilen, sich selbst zu motivieren und sich selbst zu belohnen. Wer das nicht schafft, droht im gnadenlosen Bildungs-Darwinismus der Generation Covid-19 unterzugehen.

Die Pisa-Studien der vergangenen 20 Jahre hatten bereits tiefgreifende Ungleichheiten im Bildungssystem aufgedeckt – nicht zuletzt durch die schockierende Zahl an Kindern, die auf die Schule angewiesen sind, um warmes Essen und eine sichere Umgebung zu erhalten. Wenn im digitalen Neuland Deutschland 11-Jährige mit einem Din-A-4-Papier voller Matheaufgaben für den Rest der Woche nach Hause geschickt werden, ist das Ausdruck digitaler Armut, in der manche Kinder ohne Computer oder Internetzugang vom Lernen abgeschnitten sind.

Die Kunst, sich selbst motivieren

Es fehlt nicht nur den Kindern, sondern allzu oft auch den Eltern an notwendigen digitalen und sozialen Kompetenzen. Insofern erstaunt es nicht, dass manche Eltern fürchten, ihre Kinder könnten im Wissenserwerb zurückfallen, weil sie nicht gewohnt sind, sich selbst zu motivieren. Selbst als gemeinnützig gefeierte Konzepte wie die Khan-Akademie sind nur dann als Nachhilfe-Instanzen wirksam, wenn eine Familie solche Angebot kennt und zumindest einen Computer im Haus hat.

Covid-19 stellt diese schon lange vorhandene soziale Kluft in der Gesellschaft jetzt deutlicher zur Schau. Das Humboldtsche Bildungsideal, auf das wir uns gern berufen, zielt auf das aufgeklärte, selbstbestimmte Individuum, zu dem sich alle Bürgerinnen und Bürger einer Gesellschaft entwickeln sollten. Doch jetzt ist Allgemeinbildung so elitär wie selten zuvor. Wer im Zeitalter „before Covid“ für breite digitale Aufklärung gesorgt hat, ist im Vorteil.

Big Techs bleiben unter ihren Möglichkeiten

Es gibt interaktive und wissenschaftlich fundierte Lösungen:  Century Tech hat hat seine KI-gesteuerte Lernplattform für Schulen kostenlos für alle Interessenten geöffnet. Die finnische gemeinnützige Organisation HundrED sammelt kostenlose Bildungsinnovationen aus 150 Ländern, evaluiert sie hinsichtlich ihrer Wirkung und Skalierbarkeit - und lässt sie aus verschiedenen Perspektiven (Lehrende, Studierende, Führungskräfte, Innovatoren) bewerten. Beim Global Oneness Project bekommen Lehrkräfte in interaktiven Communities Anregungen, Ideen und Unterrichtsmaterial zu Themen wie Migration oder Klimawandel, manche gleich mit passendem Lehrplan. Und Outschool bietet interaktive Live-Kurse per Videokonferenz zu einer beeindruckend breiten Palette, von Physik bis Latein, von Robotics bis Kochen.

Im Unterschied zu solch engagierten Start-ups und Non-Profit-Organisationen geizen die drei Internetgiganten Apple, Google und Microsoft mit ihren Möglichkeiten. Theoretisch verfügt jedes einzelne dieser Unternehmen über ausreichend Liquidität, um Millionen Bettelstudenten mit einem Laptop oder einem Tablet auszustatten. Stattdessen spendieren sie digitale Hilfen nur in homöopathischer Dosis: Verhältnismäßig lächerliche 15 Millionen Dollar spendete Apple zur Minderung der Covid-Folgen weltweit. Die kostenlosen individuellen Coaching-Sitzungen mit Lernexperten für Lehrer klingen mehr nach PR-Luftnummer als nach echter Hilfe. Google hat einen kläglichen 10 Millionen US-Dollar umfassenden Fernunterrichtsfond eingerichtet; die erste Million soll an die Khan Academy fließen. Und Microsoft hat bislang sein „Shape the Future"-Programm, das vergünstigte LTE-Laptops für Schulen bereitstellt, um einen universellen digitalen Zugang zu schaffen, in Reaktion auf Covid-19 um genau null Dollar erhöht. Damit bleiben alle drei Konzerne weit unter ihren Möglichkeiten.

Oder halten sie Ed-Tech-Programme womöglich ebenfalls nicht für geeignete Bildungswege? Meine Tochter, die früher davon träumte, Hausunterricht zu bekommen, will endlich wieder zur Schule gehen. „Ich will nicht mit Bildschirm-Köpfen reden, sondern mit Menschen“, sagt sie.

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