Deirdre McCloskey "Der Kapitalismus ist zu einer Privilegienwirtschaft degeneriert"

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"Der Kapitalismus ist zu einer Privilegienwirtschaft degeneriert"

WirtschaftsWoche: Professor McCloskey, der Kapitalismus ist weltweit unter Beschuss. Politiker und Ökonomen machen ihn für Krisen und die wachsende Ungleichheit verantwortlich. Ist die Kritik berechtigt?
Frau Deirdre McCloskey: Zumindest ist sie nicht überraschend. Nach jeder Wirtschaftskrise kommen Zweifel am Kapitalismus auf. Daran hat sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts nichts geändert. Die Linken sehen sich durch die Krisen in ihrer Skepsis gegenüber der kapitalistischen Ordnung bestätigt. Doch die Geschichte zeigt: Kein System hat den Menschen so viel Wohlstand beschert wie der Kapitalismus. Kritiker, die fordern, der Staat solle den Kapitalismus zähmen, erkennen nicht, dass das, was sie als Kapitalismus bezeichnen, kein echter Kapitalismus mehr ist. Durch die massiven Eingriffe des Staates ist der Kapitalismus zu einer Privilegienwirtschaft degeneriert.

Was meinen Sie damit?
Häufig wird kritisiert, der freie Markt führe zu mehr Ungleichheit. Doch das Gegenteil ist richtig. Der marktwirtschaftliche Wettbewerb wirkt Ungleichheit entgegen. Nehmen Sie das Beispiel eines hoch bezahlten Arztes. Hätten wir einen freien Markt, setzte dieser den Arzt der Konkurrenz durch andere Ärzte aus. Das ließe den Preis für ärztliche Dienste sinken. Tatsächlich aber erhalten Ärzte in den USA ein Vielfaches dessen, was andere Akademiker verdienen – weil der Staat die Ärzte durch Zulassungsbeschränkungen vor Wettbewerb schützt. Die Politiker beklagen die Ungleichheit, die sie selbst geschaffen haben.

Nicht jede Ungleichheit in Wirtschaft und Gesellschaft ist Folge staatlicher Eingriffe.
Natürliche Ungleichheit ist deshalb auch nicht schlimm. Im Gegenteil, sie ist die Voraussetzung für soziale Interaktionen und Arbeitsteilung. Wenn wir beide gleich wären, wüssten Sie alles, was ich weiß, und Sie würden nicht hier sitzen und mich interviewen. Egalitaristen, die Ungleichheit beseitigen wollen, nehmen in Kauf, die Freiheit zu zerstören und die Menschen wie kleine Kinder zu behandeln. Deutschland hat darin eine besondere Tradition.

Inwiefern?
Schauen Sie, was Otto von Bismarck gemacht hat. Er hat die Sozialversicherungen eingeführt, um dem Staat das Wohlwollen der Arbeiter zu erkaufen. Die finanziellen Segnungen der staatlichen Wohlfahrt sollten die Menschen dazu bringen, sich loyal zu Staat und Regierung zu verhalten.

Wirtschaft und Gesellschaft haben sich in den vergangenen 200 Jahren vom Nachtwächterstaat zum demokratischen Wohlfahrtsstaat entwickelt. Was ist daran so schlecht?
Meinen Sie? Als Mitte des 19. Jahrhunderts die Arbeiter das Wahlrecht erhielten, stimmten sie für mehr staatliche Sozialleistungen. Die Demokratie mündete in den Sozialstaat. Doch der Preis dafür war hoch: Eigenverantwortung und Freiheit – Werte, auf denen eine liberale Gesellschaft beruht – wurden durch den Sozialstaat in den Hintergrund gedrängt.

Wollen Sie behaupten, Demokratie sei schlecht für die Freiheit?
Im Grunde genommen ist das so, ja. Schon John Stuart Mill hat erkannt, dass eine funktionierende Demokratie erfordert, dass die Bürger ausreichend gebildet sind. Allerdings erkenne ich keine Alternative zur Demokratie. Das ist der Grund, warum ich Bücher schreibe und Vorlesungen halte. Ich versuche, die Menschen davon zu überzeugen, dass freier Handel Nutzen stiftet und dass es sinnvoll ist, staatliche Regulierungen zurückzufahren, um die Freiheit zu erhalten. Wenn die Menschen ein Grundverständnis von wirtschaftlichen Zusammenhängen haben, laufen sie nicht so schnell Gefahr, Rattenfängern wie Donald Trump auf den Leim zu gehen, die an niedere Instinkte appellieren.

Das hört sich so an, als sei der freie Markt für Sie auch eine Frage der Ethik.
Absolut. Viele Ökonomen befürworten den Markt nur deshalb, weil er den Menschen ein höheres Einkommen beschert. Das ist eine utilitaristische Sicht. Ich bin überzeugt, dass der Markt darüber hinaus eine ethische Dimension hat. Unverfälschte Marktwirtschaft beruht auf dem Haftungsprinzip. Sie belohnt die Tüchtigen und bestraft die weniger Tüchtigen. Der Markt als gesellschaftlicher Gegenentwurf zu Korruption und Vetternwirtschaft ist allen anderen gesellschaftlichen Organisationsformen nicht nur funktional, sondern auch ethisch überlegen.

Der Markt führt aber doch nicht zwingend zu steigendem materiellem Wohlstand.
Wohlstand, Freiheit und Marktwirtschaft sind eng miteinander verknüpft. Freie Märkte sind die Basis für Wohlstand, Wohlstand wiederum erzeugt Freiheit. Jede Gesellschaft muss sich fragen, ob sie die Beziehungen der Menschen lieber durch freiwillige Vereinbarungen oder durch Zwang regeln will. Wer auf Zwang setzt, wird den Staat ins Spiel bringen. Die Menschen sollten ihre Beziehungen lieber durch freiwillige Verträge regeln.

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