Deirdre McCloskey "Der Kapitalismus ist zu einer Privilegienwirtschaft degeneriert"

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Der Werdegang McCloskeys

Dass Deirdre McCloskey den Markt, die Freiheit und den Kapitalismus verteidigt, war angesichts ihres Elternhauses nicht vorgezeichnet. 1942 wurde sie als ältester Sohn einer Dichterin und eines renommierten Harvard-Professors für Staatswissenschaften geboren. Schon als Elfjähriger schlüpfte Donald, wenn er unbeobachtet war, in Frauenkleider. Da er ansonsten jedoch ein normaler Bursche war, groß, kräftig und den Frauen zugetan, kam niemand auf die Idee, dass er insgeheim das Gefühl hatte, im falschen Körper zu leben.

Der intellektuellen Tradition der Eltern folgend („Von meinem Vater habe ich die Begeisterung für die Wissenschaft, von meiner Mutter für Rhetorik geerbt“), studierte Donald an der Harvard-Universität Wirtschaftswissenschaften. Dort lernte er seine Frau kennen und heiratete sie noch während des Studiums.

Drei Monate nach der Hochzeit gestand er ihr seine Neigung zur Travestie. Der Liebe tat das keinen Abbruch, seine Frau hakte es als skurriles Hobby ab. Die Ehe, aus der zwei Kinder hervorgingen, hielt 30 Jahre. In dieser Zeit bastelte McCloskey an seiner Karriere als Wissenschaftler. Allenfalls auf Dienstreisen oder wenn die Kinder nicht im Haus waren, wagte er es, in Frauenkleider zu schlüpfen, um wenigstens für kurze Zeit in die Welt des anderen Geschlechts einzutauchen. „Jeder Mensch hat die Wahl zwischen einer männlichen und einer weiblichen Version“, sagt McCloskey. Er selbst unterdrückte seine weibliche Version jedoch zunächst.

Die wissenschaftliche Karriere verlief steil. Sie machte aus dem linken Ideologen im Laufe der Jahre einen radikalen Marktwirtschaftler. „In meiner Jugend war ich vom Marxismus überzeugt, im Studium wurde ich zum Keynesianer“, sagt McCloskey. 1968 holte ihn der spätere Nobelpreisträger Milton Friedman an die Universität von Chicago. Unter Friedmans Einfluss wandelte sich McCloskey zu einem jener marktbegeisterten Chicago Boys, wie man die Epigonen Friedmans damals nannte.

„Ökonomie ist eine Macho-Disziplin“, sagt McCloskey. Entsprechend rüde verhielt sich Donald. Auf Konferenzen und in Fachaufsätzen bügelte er Kollegen gnadenlos nieder. Dass er, der Macho-Ökonom, insgeheim davon träumte, eine Frau zu sein, ahnte keiner seiner Kollegen.

Das Denkgerüst der Mainstream-Ökonomie, das sich auf mathematische Formeln und realitätsentrückte Modelle reduziert, engte ihn mit der Zeit zunehmend ein. „Ich spürte, dass ich mich intellektuell weiterentwickeln musste“, sagt McCloskey.

Den Wechsel an die Universität von Iowa im Jahr 1980 empfand er daher als eine „humanistische Erweckung“. In den 20 Jahren, die er dort lehrte und forschte, erweiterte sich sein Denk- und Forschungsansatz.

Er sprengte die Grenzen seines Fachs, indem er Erkenntnisse der Philosophie, Soziologie, Literaturwissenschaft und der Psychologie mit denen der Ökonomie verband. Er las die Werke der Ökonomen der Österreichischen Schule, darunter Ludwig von Mises, der die Ökonomie als Teil einer umfassenden Theorie des menschlichen Handelns definiert hatte. „Hätte ich Mises früher gelesen, hätte es meine intellektuelle Entwicklung um zwei bis drei Jahrzehnte beschleunigt“, sagt McCloskey.

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