Deirdre McCloskey "Der Kapitalismus ist zu einer Privilegienwirtschaft degeneriert"

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"Ich bin Ökonomin geworden, weil ich den Armen helfen will. Die Reichen sind mir egal."

Libertäre wie Sie, Frau Professor, preisen die Vorzüge der Freiheit, aber sie gewinnen nicht die Herzen der Menschen. Statt grenzenloser Freiheit verlangen die Menschen heute nach einem starken Staat.
Libertäre und Liberale haben in der Tat zwei Probleme. Das erste betrifft die Kommunikation. Wir wissen zwar, dass freie Märkte den Armen helfen, weil sie die Wirtschaft dynamischer machen. Aber uns gelingt es nicht, diese Botschaft unter das Volk zu bringen. Deshalb plädiere ich dafür, die mütterliche Seite des Libertarismus zu betonen, die auf Wohltätigkeit und Spenden beruht. Ich bin Ökonomin geworden, weil ich den Armen helfen will. Die Reichen sind mir egal. Außerdem bin ich Christin. Deshalb spende ich einen Teil meines Einkommens. Ich habe viele Freunde aus dem linken Lager, darunter Marxisten. Die glauben, sie könnten den Armen helfen, indem sie den Mindestlohn anheben oder den Markt durch Planwirtschaft ersetzen. Doch damit erzeugen sie nur noch mehr Arme.

Sie könnten die Reichen ja auch stärker besteuern, wie es Thomas Piketty vorschlägt.
Piketty glaubt, er helfe den Armen, wenn er den Reichen etwas wegnimmt. Das ist Unsinn. Ich würde ihn gern fragen, ob er das Autorenhonorar für seine Bücher den Armen gespendet hat. Ich vermute, dass er sich damit lieber ein schönes Haus auf dem Land gekauft hat (lacht).

Sie sprachen von zwei Problemen der Libertären. Was ist das zweite?
Ein anthropologisches. Die Menschen wachsen in Familien auf. Familien sind sozialistische Institutionen. Mutter und Vater sind die zentralen Planer, und dank ihrer Einkommen regnen für die Kinder Geld und Güter wie Manna vom Himmel. Die Familie verteilt die Ressourcen gleichmäßig auf alle Mitglieder, auch wenn nicht alle an deren Erwerb beteiligt sind. Die Menschen glauben daher, das Prinzip der Familie könne auch im größeren Zusammenhang einer Gesellschaft funktionieren. Deshalb ist die Übernahme von Eigenverantwortung, wie sie Liberale fordern, so unbeliebt. Man verlässt sich lieber auf den Staat. Das ist ein großer Fehler. Denn was in der kleinen Einheit der Familie funktioniert, scheitert, wenn man es auf große Gruppen mit fremden Personen überträgt.

Die Ökonomin, die ein Ökonom war. Als Donald McCloskey startete die außergewöhnliche Karriere in der Wissenschaft. Erst in den Neunzigerjahren wurde nach einer Geschlechtsumwandlung aus Donald McCloskey Deirdre. Quelle: Kat Schleicher für WirtschaftsWoche

Jetzt reden Sie wie ein Anarchokapitalist.
So weit wie die Anarchokapitalisten, die den Staat komplett ablehnen, gehe ich nicht. Ich glaube, dass der Staat die Aufgabe hat, die Bürger zu schützen und gegen Gewalt von außen zu verteidigen. Aber anders, als das heute geschieht. Schauen Sie sich die USA an: Wir verfügen über 800 Militärstützpunkte in der ganzen Welt, darunter auch in Deutschland. Der reinste Wahnsinn. Mein Vorschlag ist, die US-Armee aus Ländern wie Deutschland und Südkorea abzuziehen. Um die US-Bürger gegen mögliche Aggressoren zu verteidigen, reichen der Küstenschutz und eine überschaubare Heeresstreitkraft. Auch Atomwaffen halte ich für legitim, weil sie andere Länder abschrecken, solche Waffen gegen Amerika einzusetzen.

Brauchen wir den Staat nicht auch, um Streitigkeiten im Innern zu schlichten und um Recht zu sprechen?
In der Öffentlichkeit ist die Ansicht verbreitet, ohne den Staat als Rechtssetzer und Rechtssprecher funktioniere die Gesellschaft nicht. Tatsächlich aber hat das Recht seinen Ursprung in privaten Vereinbarungen. Um wirtschaftliches Handeln auf eine verlässliche Basis zu stellen, haben die Menschen im Laufe der Zeit Regeln entwickelt, die es einzuhalten gilt. Auch heute noch werden die meisten Streitfälle außerhalb staatlicher Gerichte geklärt, entweder durch Schlichter oder indem man konfliktreiche Geschäftsbeziehungen durch weniger konfliktreiche ersetzt. Da kommen wir ganz ohne Staat aus.

Sie selbst haben das früher aber auch schon einmal anders gesehen.
Ja, mein erster politischer Held war der russische Anarchokommunist Peter Alexander Kropotkin. Ich entdeckte sein Buch „Gegenseitige Hilfe“ in der Gemeindebücherei in meinem damaligen Wohnort, als ich 15 Jahre war. Daraufhin wurde ich zur Marxistin. Ich nannte mich selbst eine Joan-Baez-Marxistin.

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