Deirdre McCloskey "Der Kapitalismus ist zu einer Privilegienwirtschaft degeneriert"

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"Leider bin ich wenig optimistisch. An den Unis werden Kulturbarbaren ausgebildet"

Die Marxismus-Phase hat McCloskey längst beendet, aber auch vom ökonomischen Mainstream wandte sie sich Stück für Stück ab. In der eigenen Forschung, die sie „Humanomics“ nennt, lenkt McCloskey den Blick auf die Gefühle und die menschlichen Eigenschaften, die das Handeln maßgeblich mitbestimmen: Liebe, Glaube, Mut, Hoffnung, Eitelkeit und Kühnheit.

Das Bestreben der Mainstream-Ökonomen, sich mit den Naturwissenschaften gleich zu machen, habe die Ökonomie in die Sackgasse geführt, habe sie zu einer positivistischen Rechendisziplin verkümmern lassen, kritisiert McCloskey. Um das menschliche Handeln, den Gegenstand ökonomischer Forschung, zu verstehen, müsse man die Ökonomie in der europäischen Tradition der Geisteswissenschaften verankern.

Unter Kollegen erntet McCloskey für ihre marktradikale und ketzerische methodologische Haltung Widerspruch. McCloskey bringe geisteswissenschaftliche und kulturelle Argumente in die ökonomische Diskussion, die sich einer empirischen Überprüfung entziehen, kritisiert Gregory Clark, ein Wirtschaftshistoriker von der University of California, Davis. Der Nobelpreisträger Robert Solow wirft McCloskey vor, zu sehr dem Markt zu vertrauen und Verteilungsprobleme kleinzureden.

McCloskey aber findet: Wenn die Ökonomen die Gesellschaft zum Besseren verändern wollen, müssen sie ihre mathematischen Modelle zu den Akten legen und an ihrer Rhetorik feilen. Die Welt lasse sich nur durch rhetorische Überzeugungsarbeit verändern, nicht durch lineare Algebra.

„Fakten allein machen keinen Sinn“, sagt McCloskey. Ökonomen müssen sie interpretieren, eine Story daraus machen, um sie mit Leben und Inhalt zu füllen.

Was glauben Sie, warum sind viele Ökonomen so mathematikversessen?
Die Mathematisierung der Ökonomie geht vor allem auf den 2009 verstorbenen Nobelpreisträger Paul Samuelson zurück. Die Fokussierung auf die Mathematik aber ist gefährlich. Ökonomen sollten sich stärker an den Geisteswissenschaften orientieren, die sich mit den Kategorien menschlichen Handelns befassen, etwa der Frage, was gut und was schlecht ist. Wer glaubt, ohne humanistische Bildung ein guter Ökonom zu sein, der irrt.

Was bedeutet das für die Ausbildung an den Universitäten?
Leider bin ich da wenig optimistisch. Schon als ich studierte, strich man die Vorlesung zur Geschichte des ökonomischen Denkens aus dem Pflichtkanon. Später eliminierte man auch noch die Pflicht zum Besuch der Vorlesungen in Wirtschaftsgeschichte. Heute rennen Ökonomen durch die Welt, die keine Ahnung von der Ideenentwicklung ihres eigenen Faches oder Wirtschaftsgeschichte, geschweige denn von Philosophie haben. An den Unis werden Kulturbarbaren ausgebildet.

Dafür können die Ökonomen allgemeine Gleichgewichtsmodelle berechnen ...
... die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Viele Ökonomen begreifen sich mehr als Physiker denn als Philosophen. Das ist lächerlich. Theoretische Physiker lesen regelmäßig die Studien der anwendungsorientierten Physik, um zu verstehen, wie die Welt funktioniert.

Aber heute kommt doch kein Ökonom mehr ohne die Kenntnis statistischer Testverfahren aus.
Bei all diesen Verfahren geht es darum, festzustellen, ob eine ökonomische Größe einen signifikanten Einfluss auf eine andere hat. Aber Signifikanztests sind Unsinn. Sie leiten die Größe des Einflusses allein aus einer Zahl ab, ohne den Bezug zur Umwelt zu berücksichtigen.

Können Sie das genauer erklären?
Wenn ich sage, die Temperatur beträgt zehn Grad, dann ist damit nicht klar, ob das kalt oder warm ist. Für das menschliche Empfinden sind zehn Grad ziemlich kalt, verglichen mit der Oberfläche der Sonne sind zehn Grad extrem kalt, gemessen an einer interstellaren Gaswolke aber sind zehn Grad eine Hitzewelle. Dinge können nur signifikant sein, wenn es einen Bezugsrahmen gibt.

Warum wenden Ökonomen die Testverfahren trotzdem an?
Weil die Wirtschaftswissenschaften zu einer Publikationsmaschinerie verkommen sind. Es geht darum, quantitative Ergebnisse zu produzieren, um diese karrieresteigernd in Fachzeitschriften zu veröffentlichen. Es ist höchste Zeit, dass wir die Studenten methodisch breiter ausbilden, statt sie drei Semester mit Ökonometrie vollzupumpen. Wir laufen Gefahr, damit Sozialingenieure auszubilden, die zwar rechnen, aber nicht mehr ökonomisch denken können. Statt staatliche Maßnahmen kritisch zu hinterfragen, beschränken sie sich darauf, der Regierung als Ratgeber zu dienen, wie diese am besten in die Wirtschaft eingreift.

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