
Es gibt dieses Haus doppelt. Weshalb es auch zwei Möglichkeiten gibt, sich seinem Wesen zu nähern. Da ist zum einen der Landweg. Er führt aus der Hamburger City vorbei an der brandroten Speicherstadt, dieser in sich ruhenden Backsteinskulptur mit Wasseranschluss. Wer auf diesem Pfad wandelt, stellt fest, dass die Elbphilharmonie nicht plötzlich, unmittelbar, grandios vor einem steht, sondern dass der Wuchtbau hinter den Kanälen geradezu versteckt darauf wartet, erlaufen und entdeckt zu werden.
Und mitten hinein in die Überraschung, dass die Elbphilharmonie kein erhabener Solitär ist, sondern der markante Schlussstein eines städtebaulichen Großprojekts, eines architektonischen Ensembles, das auf seine Beseelung noch wartet, mischen sich dann auch noch Erstaunen und Schreck: Wie peinlich verbissen ringt in unmittelbarer Nachbarschaft ein Pseudo-Hochhaus mit Hamburgs neuem Wahrzeichen um Aufmerksamkeit – ein Haus, über dessen Banalität schon sein Name hinreichend Auskunft gibt: Hanseatic Trade Center.
Aber dann gibt es noch den zweiten Weg, den Seeweg, auf dem man sich der Elbphilharmonie nähert wie einer Trouvaille im Museum. Erhaben und mächtig steht sie da am Ende einer perspektivischen Flucht, zieht wie mit magnetischer Kraft schon von weiter Ferne alle Blicke auf sich und erntet die Seufzer der Besucher, die sich genau diese Postkartenszene herbeigesehnt haben: „Ah, da ist sie ja.“





Nur wer mit dem Boot über die Elbe tuckert, entdeckt, wie erwartet und versprochen, ein spektakuläres Bauwerk – und vielleicht mehr noch das Bild eines spektakulären Bauwerks, das seit Wochen um die Welt geht und zu dessen Bestätigung man als Besucher nun nach Hamburg pilgert: die Elbphilharmonie als Architekturikone und Signatur der Stadt, als Ankerplatz eines Ideals von Schönheit und als tourismuspoetische Kraft, die die Prosa des Alltäglichen und Umliegenden überblendet.
Die neue Aufdringlichkeit
Natürlich, Hamburg sparte nie mit Reiz. Die Hansestadt gefiel mit Hafen und Alster, mit kalkweiß leuchtenden Gründerzeitvierteln und lockte mit der neonblinkenden Reeperbahn. Aber eigentlich drängte sich in Hamburg stets nur die Unaufdringlichkeit nach vorne. Die Sehenswürdigkeit war, dass es keine richtige gab. Man trug stiff upper lip, den Pelz nach innen und behelligte die Welt nicht mit der gediegenen Anmut. Man genoss den Wohlstand und schwieg beredt.
So gesehen ist die Elbphilharmonie – mächtig, auftrumpfend, ja: pompös – das unhanseatischste Gebäude, das man sich vorstellen kann. Dieser gewaltig wogende Wellenkamm soll noch im hinterletzten Winkel der Welt gesehen werden. Er soll coffee table books schmücken, die edelsten Magazine weltweit – und Hamburgs Hotelbetten füllen. Alles an diesem Haus schreit: Seht mich an! Bestaunt mich!
Anders gesagt: Hamburg hat sich mit einem Paukenschlag vom Understatement verabschiedet – und ist mit größtmöglichem Aplomb in den globalen Wettbewerb um Aufmerksamkeit eingestiegen. Die Stadt will Mitglied einer globalen Elite sein, eine Metropole, zu deren Besuch man sich vier, fünf Tage frei nimmt und in ein Flugzeug setzt. Eine Destination, wie es heißt, die man geschaut haben muss.
Die Chancen dazu stehen gut. Im Gegensatz zu anderen gängigen Weltarchitekturmarken wie Frank Gehry oder Daniel Libeskind, die sich in Selbstzitierung verfangen haben und nichts mehr zu schaffen wissen außer Kopien ihrer einzigen Idee, sind Jacques Herzog und Pierre de Meuron eben wahre Meister ihres Fachs. Weil sie für (fast) jeden Bauplatz eine passende, individuelle Lösung finden, eine eigene Sprache, immer neue Formen und Materialien.
Zumal in Hamburg. Was im tändelnden Spiel mit dem genius loci (Der Strom! Das Wasser! Die Wellen!) auch als grandioser Kitsch hätte scheitern können – hier ist es gelungen. In einem halb fertigen Stadtviertel namens Hafencity, in dem sich deprimierende Inspirationslosigkeit an pseudozeitgenössische Hässlichkeit reiht, ist die Elbphilharmonie in jeglicher Hinsicht eine rettende Wohltat.