Eliten Wie die Managerauslese funktioniert

Sozialer Aufstieg von unten nach oben ist selten – vor allem in der Wirtschaft. Dabei hat es noch nie so viele Institutionen gegeben, die die Leistungsträger von morgen fördern. Nicht alle profitieren gleichermaßen von den Elite-Schmieden. Wie die Managerauslese tatsächlich funktioniert.

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Rolf Elgeti Quelle: Jason Moore für WirtschaftsWoche

Es ist brutal, aus bescheidenen Verhältnissen zu stammen. Stephan Jansen weiß das nur zu gut. Als er vor gut 14 Jahren begann, Wirtschaftswissenschaften an der Universität Witten/Herdecke zu studieren, fühlte er sich zwischen all den Kindern reicher Eltern so „fehl am Platz“, dass er sein Studium nach zwei Semestern beinahe abgebrochen hätte. Dabei war es nicht einmal der fehlende Reichtum, der ihn als Bafög-Empfänger irritierte, sondern, wie er es nennt, sein „fehlendes Sozialkapital“: Die anderen konnten durch die „undurchsichtigen Türen der Netzwerkgesellschaft“ gehen, kannten die feinen Unterschiede in besseren Kreisen und konnten die heimlichen Erkennungssignale der Eliten in Wirtschaft, Kultur und Politik entziffern. Nicht so Jansen, dem am Ende eine gute Freundin den Studienabbruch ausreden konnte. Zum Glück für ihn – und für uns alle.

Spätestens seit fünf Jahren ist Jansen einer der Leistungsträger und Vordenker, die unsere Gesellschaft voranbringen. Damals wurde er – mit nur 31 Jahren – Präsident der privaten Zeppelin Universität am Bodensee, die er bis heute leitet. Die Stärke der Uni ist die fachübergreifende Lehre: mehr Gesellschaftstheorie, mehr Coaching der Studenten, mehr Forschungsorientierung. Das Präsidialamt ist nur einer seiner zahlreichen Jobs: Jansen berät Bundesfinanzminister Peer Steinbrück sowie das Forschungsministerium und veröffentlichte schon mehr als zwölf Bücher über Netzwerke, Kapitalmärkte und Fusionen — seine Diplomarbeit schaffte es gar als Standardwerk an die Harvard Business School.

Keine Frage, Jansen gehört zur deutschen Elite. Als Meinungsmacher und Universitätspräsident verändert er die Gesellschaft von innen heraus. Sein Beispiel zeigt aber auch: Es hätte nicht viel gefehlt, da wäre alles ganz anders gekommen.

Wer aufsteigt und wer nicht, das hängt in Deutschland nicht nur von Leistung ab. Auch soziale Herkunft spielt eine Rolle, eine große sogar. So schaffen es etwa in die Chefetagen der Wirtschaft auffallend häufig Manager aus besser gestellten Elternhäusern: aus Akademiker-, Beamten- und Managerfamilien. Sie verfügen vom Start weg über beste Kontakte, können sich teure Bildung leisten und besitzen oft ein größeres Selbstbewusstsein, das sie mutiger macht und ihnen das verleiht, was die Mediengesellschaft sucht und verehrt: Charisma.

Soziale Aufsteiger dagegen sind immer noch selten. Von ganz unten nach ganz oben – wer das schaffen will, muss doppelt so hart schuften und wesentlich besser sein als der Rest. Vor allem aber müssen diejenigen die richtigen Förderer finden und die subtilen Spielregeln der Macht erlernen, die andere bereits im Kinderzimmer inhalieren. Das ist nicht unmöglich, aber selten.

Eliten. Schon das Verhältnis der Deutschen zu dem Begriff ist ambivalent. Er klingt nach Ungleichheit und Ungerechtigkeit, nach denen da oben und den anderen dort unten. Dabei geht es gar nicht ohne. Eliten, das sind Personen, die „qua Position maßgeblichen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung ausüben können“, sagt Michael Hartmann von der Technischen Universität Darmstadt, der renommierteste Elitenforscher in Deutschland. Jedes Land braucht sie. Im Sinne Max Webers verfügt jede Gesellschaft über Eliten in Politik (zum Beispiel Minister), Wissenschaft (Rektoren), Militär (Generäle) und Wirtschaft (Top-Manager). Die entscheidenden Fragen lauten: Woher sollen die Spitzenkräfte kommen? Wie werden sie identifiziert und gefördert? Wie durchlässig ist das System?

Der Weg nach oben ist keineswegs so durchlässig, wie viele denken — zumindest nicht in den Konzernen. Soziologe Hartmann hat die Lebensläufe und soziale Herkunft der Vorstandschefs der 100 größten deutschen Unternehmen untersucht. Fazit: Jeder zweite Manager hat großbürgerliche Wurzeln, stammt also aus Familien mit großem Wohlstand wie bei Großunternehmern, Vorständen und Geschäftsführern. Jeder Dritte stammt aus dem Bürgertum (höhere Einkommens- und Bildungsschichten, etwa leitende Angestellte und Ärzte), aber nur rund 15 Prozent kommen aus der Mittelschicht (einfache Angestellte) oder der Arbeiterschaft. Bei den Dax-30-Chefs sieht es ähnlich aus.

Jüngstes Beispiel: Martin Blessing, der im Mai Klaus-Peter Müller auf den Chefsessel der Commerzbank in Frankfurt folgt. Für ihn war das Elternhaus offenbar prägend: Blessing ist Spross einer Finanzdynastie. Sein Großvater Karl wurde 1958 der zweite Präsident der Deutschen Bundesbank. Karls Sohn Werner wiederum schaffte es bis in den Vorstand der Deutschen Bank. Und jetzt Martin: wie der Vater, so der Sohn. Auch bei anderen Top-Managern waren die Weichen früh gestellt. Angesehene Eltern hatte etwa Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, dessen Vater Arzt war. Oder Allianz-Chef Michael Diekmann, der aus einer Unternehmerfamilie stammt.

Die Kindheit entscheidet viel. Kinder aus gehobenen sozialen Schichten genießen eine vielfach bessere Bildung. Die internationale Bildungsstudie Pisa hat das erst kürzlich gezeigt: „Es gibt kein Land der Welt, bei dem das Elternhaus einen stärkeren Einfluss auf die Schulleistung hat als Deutschland“, sagt Dieter Frey, Psychologie-Professor an der Ludwig Maximilians Universität München. Schon bei den Lehrerentscheidungen, einen Schüler für das Gymnasium, die Real- oder Hauptschule zu empfehlen, werden Kinder aus Akademikerhaushalten bei gleichen Leistungen oft bevorteilt. Folge: 83 Prozent der Akademikerkinder studieren, aber nur 23 Prozent der Kinder von Nichtakademikern.

Wer in der Welt eines großbürgerlichen Kaufmanns aufwächst, entwickelt zudem ein anderes Gespür für unternehmerische Verantwortung und für Ziele wie „Leistung“ und „Rendite“. So einer bewegt sich von Anfang an viel souveräner in einer Geschäftswelt, die anderen fremd vorkommt.

Diese Souveränität kann dann oft den Ausschlag bei wichtigen Personalentscheidungen geben, glaubt Hartmann. Die für die Auswahl zuständigen Eigentümer, Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder suchen „im Kern jemanden, der ihnen in Persönlichkeit und Werdegang ähnelt“. Es sei eben ein spürbarer Unterschied, ob jemand der Sohn eines Vorstandsmitglieds oder der Sohn dessen Chauffeurs ist, so Hartmann.

Die Vielfalt bleibt dabei häufig auf der Strecke: zu wenige Querdenker und kaum soziale Durchmischung. Die Wirtschaftselite in Deutschland bleibt unter sich. „Ich wünschte, ich könnte sagen, es ist eine Trendwende in Sicht“, erklärt Psychologe Frey. Aber das Elternhaus habe nach wie vor „einen wichtigen Stellenwert“.

In der Politik sieht das anders aus. Hier ist sozialer Aufstieg leichter möglich. Auch in der Verwaltung oder in der Wissenschaft ist das Fortkommen unabhängiger vom  familiären Hintergrund. Nirgendwo sonst als in der Geschäftswelt wirkt das so stark, was der Volksmund „Stallgeruch“ nennt.

Andrea Gadeib Quelle: Michael Dannenmann für WirtschaftsWoche

Wer sich nicht anpasst, steht schnell am Abgrund. Es ist nie der einzige Grund, aber immer einer, der mitspielt, wie das Beispiel Klaus Kleinfeld zeigt. Der Ex-Siemens-Chef stolperte nicht über eine persönliche Verwicklung in den Korruptionsskandal beim Elektronikkonzern – allerdings hat er die Bedeutung des Themas gegenüber einem nervösen Aufsichtsrat falsch eingeschätzt. Doch noch mehr hat ihm geschadet, glaubt man Insidern des Münchner Unternehmens, dass er über zu wenig alte Seilschaften und mangelndes Fingerspitzengefühl gegenüber dem gediegenen Aufsichtsrat verfügte: Mal trat er arrogant auf, mal aufmüpfig – und stets glaubte er, seine vorbildlichen Quartalszahlen würden das erlauben. Aber die Leistung entschied am Ende nicht. Als ihm im Frühjahr 2007 Teile des Aufsichtsrates um Granden wie Deutsche-Bank-Boss Ackermann und ThyssenKrupp-Chefkontrolleur Gerhard Cromme die Vertragsverlängerung verweigerten, stand Kleinfeld allein auf weiter Flur – und ging.

Dabei machen gravierende Veränderungen in Unternehmen die gläserne Decke für soziale Aufsteiger in der Regel durchlässiger, beobachtet Elitenforscher Hartmann. In der Situation müssten sie sich nicht mit den Netzwerken im eigenen Haus vertragen, im Gegenteil: Sie sollen auf-räumen und den Filz ausdünnen. Und das kann jemand, der nicht dazugehört, eben am besten.

Das ist etwa auch das Plus von Telekom-Chef René Obermann. Sein Lebenslauf lässt alles andere als eine Konzernkarriere vermuten: Er wuchs in einfachen Verhältnissen auf, machte Abitur und absolvierte eine Ausbildung zum Industriekaufmann bei BMW. Das Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität Münster brach er vorzeitig ab. Mit 23 Jahren gründete er ein erfolgreiches Telefonunternehmen, das er später an den Hongkonger Konzern Hutchison Whampoa verkaufte. Der damalige Konzern-Chef Ron Sommer holte ihn zur Telekom. Obermann wurde Vertriebschef Mobilfunk, später Chef von T-Mobile, und 2002 rückte er in den Konzernvorstand auf. Ende 2006 wählte ihn der Aufsichtsrat schließlich zum Konzernchef.

Zu dem Zeitpunkt litt die Deutsche Telekom unter Kunden- und Umsatzschwund und brauchte dringend eine Radikalkur. Obermann, der „Mann für die eher unpopulären Entscheidungen“ („Handelsblatt“), war dafür genau der Richtige.

Solche Ausnahme-Karrieren bestätigen allerdings eher die Regel der Nichtdurchlässigkeit. Wie auch Rolf Elgeti. Der ostdeutsche Bauernsohn hat es in Rekordzeit zum Chefstrategen bei der niederländischen Großbank ABN Amro in London geschafft. Dafür musste er aber von Anfang an Überdurchschnittliches leisten: Abitur mit 1,0, Wirtschaftsstudium an der Uni Mannheim in fünf Semestern, MBA an der Elite-Uni Essec in Paris. Als er den Vertrag als Chefstratege für den europäischen Aktienmarkt bei ABN Amro unterschreibt, ist er gerade mal 27 Jahre alt. Die Kollegen nennen ihn „Rolfnator“, weil er seine Aufgaben so gnadenlos erledigt wie Hollywoods Terminator seine Feinde.

Doch mit 30 Jahren macht der Staranalyst etwas, das typisch ist für soziale Aufsteiger: Er steigt aus und macht sein eigenes Ding. Vor ein paar Monaten hat er einen eigenen Immobilienfonds aufgelegt und sammelt nun bei den Briten Geld ein, um es in deutsche Immobilien zu investieren.

Tatsächlich gründet das Gros sozialen Aufsteiger lieber ein eigenes Unternehmen, statt sich den Mühlen einer Konzernkarriere auszusetzen. So wie Carsten Maschmeyer, der in einem Mutter-Kind-Heim aufwuchs und Gründer und heute Chef des börsennotierten Finanzdienstleisters AWD ist. Oder Peter Dussmann, der sich niemals zu schade war, selber zu putzen, bevor er seinen gleichnamigen Reinigungskonzern schuf.

Die Netzwerke der Old Boys schrecken viele Aufsteiger ab. Diese sind wenig durchlässig, was es für ausländische Nachwuchskräfte zusätzlich erschwert, in Chefetagen deutscher Unternehmen aufzurücken. Die Halbsyrerin Andera Gadeib zum Beispiel, die das Online-Marktforschungsinstitut Dialego gründete und Verbraucherstudien für Unilever, Coca-Cola oder Gruner + Jahr erstellt, war mit hilfreichen Kontakten nie ausgestattet: Ihr Vater war Arbeiter bei Philips, die Mutter, eine gelernte Datentypistin, führt eine Geschenkboutique auf 20 Quadratmetern. Für die 37-Jährige kam nur die Selbstständigkeit infrage: „Die anderen werden mich schon schaukeln – nein, das ist nicht mein Ding.“

Gerade Manager aus einfacheren Verhältnissen zeichnen sich durch eine „besondere Arbeitsethik“ aus, glaubt Stefan Fischhuber, Partner bei der Personalberatung Heidrick & Struggles. Sie arbeiten diszipliniert, nehmen Doppelbelastungen in Kauf und sind bereit, sich selbst zurückzunehmen. Sie folgen der inneren Logik: Macht kommt von machen. Diese Bescheidenheit ist zwar gut für die Unternehmen, aber Gift für die Karriere. Studien zeigen: Der Drang nach Macht ist einer der wichtigsten Charakterzüge für einen steilen Aufstieg.

Die Weichen dafür stellen die meisten in der Lebensphase zwischen 35 und 45 Jahren. Fischhuber weiß aus Erfahrung: In dieser Zeit haben die Erfolgreichsten bereits mindestens ein „kritisches Projekt gemeistert“, eines von strategischer Bedeutung für das Unternehmen, für das sie auch ein persönliches Risiko eingegangen sind. Wer aber von Hause aus keine Sicherheit mitbringt, der scheut das Risiko.

Die Chancen nutzen dann andere. Menschen mit ausgeprägtem Ehrgeiz, Wettbewerbsdenken und Machtinstinkt. Keiner repräsentiert diesen Typ Manager stärker als Alexander Dibelius. Der Sohn eines Musikwissenschaftlers, Ex-Chirurg und Deutschland-Chef der Investmentbank Goldman Sachs muss immer siegen. Beim Ski-Cup gegen Ende des Weltwirtschaftsforums in Davos schafft Dibelius etwas, was vor ihm keiner schaffte: Bestzeit unter 50 Sekunden auf der Slalom-Strecke. Was anderen als Abschluss und Entspannung einer anstrengenden Tagungswoche erscheint, gerät bei Dibelius zur Wettkampfarena. Für ihn geht es fortwährend um mein Haus, mein Pferd, meine Yacht. Die schönste Frau? Erobert. Die attraktivste Villa in München? Gekauft. Und natürlich muss er die Villa des Dichterfürsten Thomas Mann auf dessen Grundstück nachbauen, nicht irgendeine.

Es ist ganz natürlich, dass solche Unternehmenschefs auch wieder Typen um sich scharen, die genauso ticken wie sie selbst. Die Folge: Befördert wird, wer in das System passt.

Die Personalabteilungen könnten auch gegensteuern, um alternative Nachwuchskräfte frühzeitig zu entwickeln. Doch von „Diversity“ keine Spur. Rund 60 Prozent der Unternehmen haben zwar explizite Programme für benachteiligte Gruppen wie etwa Frauen. Doch im Top-Management kommt davon nichts an: Der Anteil der Frauen sank hier sogar von 7,5 Prozent im Jahr 2006 auf 5,7 Prozent im vergangenen Jahr.

Auch bei den Top-Managern überwiegt die Skepsis, was ihre Aufstiegschancen betrifft. Zwar gibt es Branchen wie die Automobilindustrie, in der es der Ingenieur – der klassische Aufsteigerberuf – auch bis an die Spitze schafft. Doch vier von zehn Führungskräften bezweifeln in einer exklusiven Umfrage der Personalberatung LAB für die WirtschaftsWoche, dass prinzipiell jeder die Chance hat, an die Spitze zu gelangen. 70 Prozent sind gar davon überzeugt, dass bei Beförderungen das Netzwerk die entscheidende Rolle spielt.

Wie es sich anfühlt, wenn einem solche Kontakte fehlen, weiß etwa Steffen Leistner. Aufgewachsen in der DDR und zur Wendezeit Strategiechef des Kombinats Kali, wurde er, der intern schon als Kronprinz galt, schließlich gegen Manager aus dem Westen ausgetauscht und zu einem bloßen Assistenten des Produktionsvorstands degradiert. Die Treuhand hatte nun das Sagen, und Leistner keine Mentoren, ihm fehlte das sprichwörtliche Vitamin B.

Glück im Pech: Die US-Eliteschmiede Harvard schrieb kurze Zeit später Stipendien speziell für osteuropäische Nachwuchstalente aus. Und Leistner bekam die Chance, als erster „Ossi einen MBA in Harvard zu machen“. Er schloss das Studium erfolgreich ab und wechselte in die Beratung Booz Allen Hamilton, wo er heute als Partner arbeitet. Harvard, das sei sein „Befreiungsschlag“ gewesen, sagt er.

Es ist bezeichnend, dass die Karriere über den Umweg USA wieder eine wurde. Leistners sozialistische Vergangenheit nahm ihm in Harvard keiner übel, auch seine bis dahin geringen Englischkenntnisse nicht. Im eigenen Land hatte er „damals mehr mit Vorurteilen zu kämpfen als in den USA“.

Genau diese Offenheit macht die Vereinigten Staaten so erfolgreich. Dort ist eher möglich, was hier noch wünschenswert bleibt: Die Leistung entscheidet. Amerika ist die wohl durchlässigste Gesellschaft aller Industrienationen. Zwar spielen auch dort Wohnort, Geld und Einfluss eine Rolle, aber für die Talentiertesten aus dem Kreis von Minderheiten gibt es Stipendien. Frankreich und England überlassen die Bildung ihrer Eliten vor allem Top-Institutionen.

Bürgertum verliert Einfluss

Ganz anders in Deutschland. Lange Zeit wurde die Ausbildung künftiger Eliten den staatlichen Hochschulen übertragen, die sich jedoch eher auf Massenleistung denn auf Spitzenleistung konzentrierten. Allenfalls Einzelinitiativen wie die Studienstiftung des deutschen Volkes kümmerten sich gezielt um die Förderung von Talenten.

Das hat sich gewaltig gewandelt: So sind in den vergangenen Jahren zig Einrichtungen entstanden, die sich der Ausbildung von Eliten verschrieben haben. Die Exzellenzinitiative erkor neun deutsche Hochschulen zu „Elite-Unis“, darunter Freiburg, München und Aachen. In Berlin entstand 2002 die European School of Management and Technology mit dem Ziel, der Harvard Business School in Sachen Managerausbildung Paroli zu bieten. Privathochschulen wie die European Business School (EBS) werben auf ihrer Homepage damit, „eine unternehmerische Hochschule für künftige Führungseliten mit einem globalen Netzwerk“ zu sein.

Das klingt gut. Nur: Je mehr das von sich behaupten, desto weniger elitär ist es.

Nicht selten steht „Elite“ drauf, wo gar keine drin sitzt. Das jedenfalls ist das Ergebnis einer Recherchereise der 29-jährigen Journalistin Julia Friedrichs, die zahlreiche selbst ernannte Elite-Institutionen besuchte und ihre Eindrücke in ihrem diese Woche erscheinenden Buch „Gestatten: Elite“ zusammengefasst hat. Friedrichs Fazit: Der Begriff „Elite“ werde mittlerweile in allen gesellschaftlichen Bereichen „für eigene Zwecke instrumentalisiert –  und leider auch missbraucht“.

Folge: Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder heute auf Internate oder Privathochschulen und lädt „deren Lebenslauf mit dem Begriff Elite auf“, kritisiert Friedrichs – unabhängig davon, was dort tatsächlich vermittelt wird. Heraus kommen Zirkel, in denen es nicht immer um Leistung geht, sondern auch um Dazugehörigkeit und den Geldbeutel der Eltern.

So beschreibt die Journalistin in ihrem Buch eine Szene an der EBS, wo sich ein Vater über die Aufnahmechancen seiner Tochter sorgt, deren Mathematiknoten schlechter als 3,0 sind:

Die Studienberaterin redet beruhigend auf ihn ein. Schlechter als 2,7, das bedeutet nicht automatisch das Aus. Es gäbe immer Grauzonen. Wer Ergebnisse zwischen 2,7 und 3,7 habe, der könne Vorbereitungskurse belegen. 475 Euro kostet der Mathekurs, 1450 der Englischkurs, plus Anreise, Unterkunft und Verpflegung. „Das belastet nur den Geldbeutel Ihrer Eltern, Sie sollte das aber weniger belasten“, erklärt [die Beraterin] der Tochter lächelnd. Nur wer im Mathetest schlechter als „ausreichend“ abschneide, den könne man leider wirklich nicht annehmen.

Bei 3,7 liegt die Hürde, die man auf keinen Fall reißen darf. Ich bin überrascht. Ich hätte es mir schwieriger vorgestellt, das Ticket zu lösen, das zu einem Studium an einer selbst ernannten Elitehochschule berechtigt.

Chancenungleichheit ist allein volkswirtschaftlich eine Katastrophe. "Jüngste Forschungen zeigen, dass sowohl eine Leistungselite als auch eine gute Bildung für die breite Bevölkerung sich jeweils separat stark auf das langfristige Wirtschaftswachstum auswirken", sagt etwa Bildungsökonom Ludger Wößmann. Wenn Deutschland zu den besten Bildungsnationen aufschließen würde, könne das Wachstum des deutschen Bruttoinlandsprodukts langfristig "um 0,5 Prozentpunkte höher liegen“.

Die Vielzahl der Versuche, jungen Hochbegabten und Leistungswilligen eine besonders hohe Bildung zu garantieren, wirkt aber auch wie ein Motor. „Dort, wo viele Privatschulen existieren, ist das Leistungsniveau insgesamt höher, also auch das der öffentlichen Schulen“, sagt Wößmann. In dem Bereich tut sich extrem viel: In Deutschland gibt es derzeit mit 2870 Privatschulen rund 40 Prozent mehr als 1990. Fast jede Woche kommt eine hinzu.

Auch Innovationen im Hochschulbereich haben die akademische Bildungslandschaft gehörig wachgerüttelt. Die Bucerius Law School etwa will als erste Privathochschule für Rechtswissenschaft die Juristenausbildung reformieren. Das Studium lehrt auch Aspekte aus Fächern wie Geschichte, Kunst und Naturwissenschaften. Einen interessanten Weg geht auch die Zeppelin Universität. Sie will „Pioniere“ ausbilden, die in Wirtschaft, Kultur und Politik neue Wege bestreiten. Ein Element: Statt Vorlesungen finden Dialoge statt.

Der Sprung in Spitzenpositionen der deutschen Wirtschaft ist damit freilich nicht garantiert. Und Elite sind Studenten schon per Definition nicht, da sie noch keinen maßgeblichen Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen ausüben. Aber ihre Chancen verbessern sich.

Das gilt auch für Absolventen der Bayerischen Elite-Akademie. Maximal 30 Studenten werden hier pro Jahr gefördert. Wer in den Kreis aufgenommen wird, entscheiden keine Kontakte, kein Geld, sondern vor allem gute Noten. Nur die zehn Prozent der Jahrgangsbesten beim Vordiplom dürfen sich bewerben. Dabei versucht die Akademie auch kreative Vordenker mit Zickzack-Lebensläufen zu fördern.

Der Lohn dieser Auslese: Wer es schafft, profitiert von spezieller Förderung: Seminare wie „Führen, Sich-Führen und Sich-führen-Lassen“ oder „Führung mit christlichen Tugenden“ bereiten die klugen Köpfe auf ihre mögliche spätere Verantwortung in Wirtschaft, Politik und Kultur vor. Die Akademie hat sich dem Ziel verschrieben, „ethikorientierte Führungspersönlichkeiten“ auszubilden: Diese sollen Innovationskraft und Spitzenleistungen erreichen und „mit Menschenwürde verbinden“, sagt der akademische Leiter Dieter Frey.

Das ist ein hoher Anspruch. Aber auch ein lohnender Versuch. Jede Gesellschaft braucht Menschen, die Verantwortung übernehmen — nicht nur für sich, sondern auch für andere. So kommt der Begriff „Elite“ auch seinem ursprünglichen Sinn zu Zeiten der französischen Revolution am nächsten: „élite“, das waren Personen, die sich — im Gegensatz zu Adel und Klerus — ihre gesellschaftliche Position „verdient“ haben.

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