Empathie Die zehn Nachteile des Mitgefühls

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6. Empathie grenzt aus

Unsere Empathie verteilen wir ungerecht. Besonders gut können wir uns in jene hineinversetzen, die uns ähnlich sind. Hat der andere eine andere Hautfarbe, einen fremden kulturellen oder sozialen Hintergrund, sind wir weit weniger bereit, ihm empathisch zu begegnen – obwohl er es vielleicht nötiger hätte. Im Beruf bilden sich dadurch Teams, die andere ausgrenzen. Es baut sich ein Wirgefühl auf, das nach außen hin verheerend sein kann: Fremden begegnen diese Gruppen mit Desinteresse oder Schadenfreude, wie Mina Cikara, Psychologin an der Harvard-Universität, in einer Studie im Jahr 2011 nachwies. „Empathie klingt moralisch erhaben, kann aber auch dazu dienen, moralisch verwerfliche Handlungen zu tätigen“, sagt Claus Lamm, Neurowissenschaftler und Psychologe an der Universität Wien.

Eine Kultur der Diskriminierung könne sich somit unbewusst quer durch ganze Teams oder Abteilungen etablieren: Manager kooperieren dann nur noch mit ihresgleichen, behandeln Konkurrenten überheblich und reagieren mit übertriebener Härte, wenn sie bei anderen eine Schwäche entdecken.

7. Empathie begünstigt Korruption

Da Empathie das Wirgefühl stärkt, kann sie in Gruppen auch eine falsche Solidarität heraufbeschwören: Wer zu sehr mit den Kollegen mitfühlt, billigt auch deren Versäumnisse eher und geht gegen Fehlverhalten nicht vor. Das kann Unternehmen massiv schädigen, weil mitunter selbst Vergehen wie Betrug oder Erpressung von verschworenen Teams gedeckt werden. So konnte Francesca Gino von der Harvard Business School im Jahr 2013 nachweisen, dass Menschen eher bereit sind, zu lügen oder zu betrügen, wenn sie glauben, damit jemandem zu helfen, dem gegenüber sie Empathie empfinden.

8. Empathie ist kein fairer Ratgeber

Intuitiv erwarten wir, dass Menschen aus Leid lernen. Entsprechend rechnen wir zum Beispiel damit, dass ein Chef, der einen nahen Angehörigen verloren hat, mehr Verständnis zeigt, wenn ein Kollege kurz darauf denselben Schicksalsschlag durchlebt. Studien belegen allerdings das Gegenteil. Wer schmerzliche Erfahrungen durchlitten hat, urteilt über Menschen mit ähnlichem Leid besonders hart. Ehemalige Mobbingopfer etwa zeigen zwar Mitgefühl für Leidensgenossen, solange diese sich mit ihrer Situation abgefunden haben, fand Loran Nordgren von der Kellogg School of Management in Illinois in einer Studie im Jahr 2015 heraus. Dafür reagieren sie jedoch am herzlosesten, wenn andere Mobbingopfer sich in ihrer Not wehrten. Führungskräfte müssten diese Ergebnisse besonders ernst nehmen, meint Nordgren. Denn dieser Mechanismus kann dazu führen, dass sie unbewusst gefühlskalt handeln.

9. Empathie wird überschätzt

Empathische Kellner bekommen mehr Trinkgeld, einfühlsame Verkäufer machen mehr Umsatz – zahlreiche Untersuchungen belegen, welche Vorteile Empathie im Berufsleben bringt. Im Vergleich zu anderen Qualitäten wird die Bedeutung emotionaler Aspekte aber häufig überschätzt, klagen Experten wie die Psychologieprofessorin Bechtoldt. „Natürlich ist es für Führungskräfte enorm wichtig, Gefühle und Stimmungen wahrzunehmen“, sagt sie. Dennoch seien Faktoren wie Intelligenz und Fachwissen wichtiger für das berufliche Fortkommen: „Emotionale Elemente werden zu hoch gehandelt.“

10. Empathie fehlt der Verstand

Einfühlungsvermögen lässt sich manipulieren, missbrauchen und trainieren, genauso aber auch abschalten – dazu reichen sogar einfache Schmerztabletten, wie Claus Lamm nachweisen konnte. Empathie allein kann deshalb kein guter Ratgeber sein, weder in unserem Alltag noch im Beruf. „Empathie ist ein reines Gefühl“, sagt Lamm, „was ihr fehlt, ist der Verstand – die Kraft, Lösungen zu finden und umzusetzen.“

Daher ist auch bei der vermeintlich erstrebenswerten Empathie die richtige Dosis entscheidend. Ein Chirurg muss während einer Herzoperation eiskalt agieren, Angehörige danach aber einfühlsam aufklären. Ein Strafverteidiger muss den feinen Grat finden zwischen nüchterner Parteinahme und dem respektvollen Umgang mit der Gegenseite. Und ein Vorgesetzter, der eine Kündigung vor Mitleid triefend vorträgt, ist für Betroffene genauso unerträglich wie ein eiskalter Rausschmiss.

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