Erfolgreich scheitern Warum wir auch mal versagen müssen

In der deutschen Gesellschaft ist Scheitern tabu – obwohl es zu jedem Leben dazu gehört. Wenn man richtig damit umgeht, kann gerade das Versagen zum Erfolg führen.

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Scheitern und wieder aufstehen. Quelle: Marcel Stahn

Bis zum Berliner Mauerfall hätte es für Hans-Jürgen Stöhr kaum besser laufen können. Nach dem Studium der Philosophie und Biologie in Ostberlin wechselte er in den 70er-Jahren zur Uni Rostock. 18 Jahre lang forschte und lehrte er dort – mit der Aussicht auf einen eigenen Lehrstuhl.

Doch dann kam die Wende – für Deutschland, aber auch für Stöhr selbst. Für Philosophen aus dem Osten gab es keine Lehrstühle mehr. Die bekamen neu angestellte Philosophen aus Westdeutschland. "In diesem Moment stand ich vor der Entscheidung, ob ich den Kopf in den Sand stecke oder mir neue Handlungsoptionen überlege", sagt Stöhr, der heute als Coach tätig ist.

Stöhr durchlebte das, was der deutsche Philosoph Karl Jaspers bereits vor fast 100 Jahren in seiner "Psychologie der Weltanschauungen" beschrieb: Menschen geraten in ihrem Leben immer wieder in Grenzsituationen, in denen ihre Grundüberzeugungen über den Haufen geworfen werden. "In unserem Dasein sehen wir hinter den Grenzsituationen nichts anderes mehr", schrieb Jaspers. "Sie sind wie eine Wand, an die wir stoßen, an der wir scheitern."

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Auch wenn Jaspers' Theorie über das Scheitern mittlerweile ein Jahrhundert alt ist, so ist sie laut Stöhr und der Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Andrea Abele-Brehm, heute noch gültig. Egal ob beruflich oder privat: Auch heute noch stoßen Menschen in ihrem Leben im übertragenen Sinn an eine Wand. Die Ziele, die sie sich gesetzt hatten, können sie nicht mehr erreichen – sie scheitern.

Die Gründe dafür können vielfältig sein, weiß Abele-Brehm: "Manchmal scheitern Menschen, weil sie sich überschätzen, es nicht wahrhaben wollen und deshalb die Augen vor der Realität verschließen. Manchmal sind auch einfach die äußeren Bedingungen ungünstig, ohne dass sie dafür verantwortlich sind."

Hinzu kommt: "Gerade technische Entwicklungen verlangen uns immer häufiger komplexe Entscheidungen ab und stellen uns vor neue Herausforderungen", sagt Stöhr. Ein simples Beispiel: Etwa 4000 Gegenstände gibt es laut Stöhr in einem durchschnittlichen Haushalt. Schon nach dem Aufstehen bedienen wir gleich mehrere zur gleichen Zeit: die Kaffeemaschine, den Toaster, den Herd, die Spülmaschine – und verlieren so schnell den Überblick.

Dann kann es durchaus passieren, dass die Kaffeemaschine weiter läuft und der Herd an bleibt, obwohl man schon längst das Haus verlassen hat. Mehr Entscheidungen bergen auch mehr Fehlerquellen.

Scheitern ist immer noch ein Tabu-Thema

Genauso wenig wie an der Gültigkeit von Jaspers' Theorie aus dem Jahr 1919 hat sich etwas an der Einstellung der Gesellschaft zum Scheitern hierzulande geändert. Während es in den USA sogar reihenweise Kongresse zum Thema Scheitern gibt, wird in Deutschland höchstens unter vorgehaltener Hand über dieses Thema gesprochen. "Die gesellschaftlichen Normen sind darauf ausgelegt, dass wir uns als kluge und durchsetzungsstarke Menschen zeigen", sagt Abele-Brehm.

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Da bleibt kein Raum fürs Scheitern. "Wer einmal scheitert, dem wird oftmals nachgesagt, dass er es einfach generell nicht drauf hat", sagt Coach Sandra Masemann. Nach ihrer Meinung greifen in Deutschland auf diese Weise relativ schnell und gnadenlos Abwertungsmechanismen: Die gesamte Person werde in Frage gestellt und der soziale Status herabgestuft.

Auch deshalb taten sich ihrer Meinung nach die Top-Manager des Volkswagenkonzerns so schwer, Fehler rund um den Abgas-Betrug öffentlich zuzugeben. Die Unternehmenskommunikation in der Diesel-Affäre wird aus ihrer Sicht dem Autobauer nachhaltig schaden. "Wer immer nur das preisgibt, was er sowieso nicht mehr leugnen kann, dem vertrauen die Menschen nicht mehr", sagt Masemann.

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